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Schafft Spotify sich selbst ab? Hört die KI durch KI erstellte Musik?

Streaming ist die Zukunft der Musikindustrie. Das sehen sogar Künstliche Intelligenzen so und haben angefangen, auf Spotify ihre liebsten Songs zu hören. Dahinter steckt der Versuch, sich an den Tantiemen zu bedienen, die eigentlich an menschliche Musiker und Labels gehen sollten. Können die großen Streaming-Anbieter den Angriff aufhalten, bevor mit Streaming das nächste Distributionsformat zugrunde geht?

Knapp 50.000 neue Songs werden jeden Tag auf Spotify hochgeladen. Die Botschaft ist klar: Hier ist wirklich jeder willkommen. Und so erregte es höchste Aufmerksamkeit, als das schwedische Unternehmen bekanntgab, man habe mit sofortiger Wirkung einige tausend Streams aus dem Katalog ausgeschlossen. Alle stammten aus der virtuellen Feder des KI-Start-Ups Boomy, dessen Algorithmus innerhalb weniger Sekunden in der Lage ist, direkt verwendbare Songelemente aus den unterschiedlichsten Stilrichtungen zu generieren. Dabei untersagt Spotify nicht prinzipiell KI-komponierte Werke. Vielmehr bestand der Verdacht, Nutzer hätten mithilfe von Boomy tausende Tracks erstellt und diese anschließend unter Verwendung von Bots so gestreamt, bis die Tantiemen-Kasse klingelte.

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Maschinen hören von Maschinen geschrieben Musik?

Für die Medien ein gefundenes Fressen. Für Spotify und ähnliche Dienste eine unmittelbare Bedrohung ihres Geschäftsmodells. Der Konflikt mit Boomy wurde schon bald beigelegt und seitdem scheint das Thema zumindest öffentlich kaum noch eine Rolle zu spielen.

Hinter den Kulissen aber bewegt sich einiges. Insider bemessen den Anteil nichtmenschlicher Streams aktuell auf ungefähr 7%, das entspräche vielen Milliarden künstlicher Hör-Sessions.  Die Ausschüttungen/Tantiemen berechnen sich anhand der Einnahmen über verkaufte Abos und Werbung und verteilen diese mittels eines Popularitäts-Schlüssels auf die Künstler und Labels. Wenn nun aber KI-Tools die Plattformen mit Songs überfluten, die anschließend von virtuellen Profilen 24 Stunden am Tag dauergestreamt werden, stürzen die Tantiemen pro Stream ab und wird der Markt unkontrollierbar verzerrt.

Es versteht sich von selbst, dass diese Situation für Labels inakzeptabel ist. Nachdem sie in den 90ern viele bange Jahre damit verbrachten, sich apokalyptische Szenarien über das Ende der Musikindustrie auszudenken, waren Downloads und Streams ein Geschenk des Himmels. Indem sich die Majors in diese Formate einkauften nahm ihre Kontrolle über den Markt letzten Endes gegenüber der Zeit physischer Formate sogar noch zu. KI war für sie lange durchaus keine Bedrohung, sondern eher ein weiterer Baustein dieser Kontroll-Strategie. Bots kontrollieren YouTube-Videos auf die Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke und treiben Tantieme ein; künstliche Intelligenz unterstützt Hitproduzenten bei der Arbeit und reduziert Kosten für menschliche Experten; schließlich soll KI langfristig eine zentrale Stelle in der eigenen Produkt- und Artist-Palette werden.

Wird das oftmals für seine Unmenschlichkeit kritisierte Streaming-Modell nun durch die Geister zu Fall gebracht, die es heraufbeschworen hat?

KI-Musik und KI-Hörer sind dabei nur ein Teil des Problems. Ein anderer ist die Zunahme an Profilen, die sich auf die Bereitstellung von Wellness-Klängen, Hintergrundbeschallung und funktionaler Musik spezialisiert haben: Sounds, die Babys beim Ausruhen, Studenten beim Studieren, und produktiven Gesellschaftsmitgliedern beim konzentrierten Erfüllen ihrer Aufgaben helfen sollen. Was nach Realsatire klingt ist in Wahrheit zu einem lukrativen Geschäftsmodell geworden. Unzählige Apps, Webseiten und sogar CDs versprechen besseren Schlaf, innere Ruhe und höhere Gesundheit. Nun schwappen diese Angebote auf die Streaming-Plattformen über.

Und das mit durchschlagendem Erfolg. Die anderthalb Minuten sanft rollender Ozeanwellen des Spotify-Profils „White Noise Therapy“ haben in gerade einmal anderthalb Jahren fast 200 Millionen Streams erzeugt – so viele wie manche Tracks auf dem neuen Taylor Swift Album. Der Kanal „Granular“ wiederum hat weißes Rauschen auf sowohl 500 Hz als auch 145 Hz im Angebot. Zusammen wurden sie bereits über eine Milliarde Mal abgerufen. Statt gegen sie vorzugehen versucht Spotify die Anbieter so organisch wie möglich in den eigenen Kosmos einzubinden.

Inzwischen finden sich sogar Radio-Kanäle mit funktionalen Klängen und Playlists mit den besten „Brown Noise“ Tracks für optimierten Fokus. Für unabhängige Musiker aber wird die Situation dadurch nicht besser. Sie sehen sich nicht nur der Konkurrenz mit den Major ausgesetzt, deren Budgets das ihrige um ein Vielfaches übersteigen, sondern müssen nun auch ihre verschwindend geringen Einnahmen noch mit Stücken teilen, die nicht einmal als Musik intendiert sind.

Gegenmaßnahmen

Da der Druck auf Streaming-Anbieter wie Labels gleichermaßen wächst, kann es nicht verwundern, dass bereits die ersten Gegenmaßnahmen eingeleitet wurden. Die Vorhut bildert das französische Unternehmen Deezer. In direkter Zusammenarbeit mit den Plattenfirmen hat man verschiedene Anpassungen des Geschäftsmodells vorgenommen, die Bots, ungezügelte KI und funktionale Musik in geordnete Bahnen lenken sollen. Die Sounds von schleudernden Waschmaschinen und sanftem Rauschen wurden demonetarisiert und Deezer stellt nunmehr gezielt eigene Angebote in diese Richtung zur Verfügung.

Weitaus eingreifender ist die Umstellung des Ausschüttungsmodells in Richtung „professioneller Künstler“. Ausgezahlt wird bei Deezer fortan nur noch an Musiker, die mehr als 1000 Stream von 500 verschiedenen Hörern im Monat generieren – alles unter dieser Schwelle gilt als vernachlässigenswert. Wenn Nutzer über die Suchfunktion gezielt nach einem Lied forschen und es anschließend abspielen, wertet Deezer diese Streams doppelt. Das Modell klingt hart, doch der Gedanke dahinter ist eher, Künster wieder in den Mittelpunkt zu rücken – freilich auf dem Rücken all derer, die mit diesen Mindestanforderungen nicht mithalten können. Der nächste logische Schritt bestünde dann darin, Tantiemen nur noch anhand der Streams aus zahlenden Kundenprofilen berechnen und Künstler nur noch für die Songs zu bezahlen, die auch wirklich gehört werden.

Gleiche Rechte für KI

Während die Labels, angeführt vom Marktführer Universal, gegen die Bedrohung ihres Einnahmen-Stroms kämpfen, sehen sich die Anbieter virtueller Technologien als Verfechter der Rechte all derer, die im Streaming-Zeitalter bisher zu kurz gekommen sind. Boomy will, so darf man einige der Aussagen auf ihrer Webseite und in den Medien verstehen, eine komplette Demokratisierung der Produktionsmittel herbeiführen. Wenn die großen Labels den Zugang zu Elite-Studios, Hit-Produzenten und Distributionskanälen monopolisieren, stehe den Independents keine andere Wahl zur Verfügung, als künstliche Intelligenz für sich arbeiten zu lassen. Zwar klingen die meisten von Boomy produzierten Loops und Fragmente eher unbrauchbar. Doch erfordert es denkbar wenig Fantasie um sich vorzustellen, wieviel näher am menschlichen Produkt das selbe Angebot in wenigen Jahren sein wird – gerade was Ambient-Atmosphären und Beats angeht.

Selbst, wenn es der Industrie gelingt, sich gegen hörende Bots und die Schwemme an KI erzeugten Kompositionen zu wappnen, scheint die Welle kaum noch aufzuhalten. Der Dienst Musixy hat sich beispielsweise darauf spezialisiert, Cover-Versionen zu berechnen, in denen die KI die Stimmen bekannter Künstler nachahmt. User können sich neue Versionen wünschen oder sogar eigene Songs mittels der proprietären KI erstellen lassen, in denen einem bekannte Superstars ein Ständchen singen.

Wer also immer schon einmal wissen wollte, wie Lana del Rey „Reign in Blood“ von Slayer säuselt, oder Michael Jackson wohl als Interpret von „Schnappi, das kleine Krokodil“ geklungen hätte, wird hier fündig. Gründer Can Ansay sieht sich als Retter der Branche und meint sich als Anwalt gegen jede Klage der Major gewappnet zu haben. Seine Ambitionen sind kaum weniger als gigantisch – so orakelt er bereits, einem KI-geschriebenen Song zum Sieg bei der Grammy-Verleihung zu verhelfen. Spätestens dann werden sich die Schleusen komplett öffnen.

Streaming-Kritiker werden sich die Schadenfreude kaum verkneifen können, doch zum Lachen dürfte hier keinem zumute sein. Wenn das Streaming-Modell tatsächlich zusammenbricht, steht die Industrie erneut vor einem schwarzen Loch und Künstler vor einem Scherbenhaufen.

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