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Der Geist des Punks im Techno-Gewand

Diverse Medien bezeichneten die in Paris lebende New Yorkerin Louisahhh bereits als „Königin des Techno“. Nach diversen Singles erweist sie sich auf ihrem aktuellen Debütalbum „The Practice Of Freedom“ als Grenzgängerin zwischen Techno, Industrial, Punk und Rock. Und der Titel ist durchaus programmatisch, denn die Künstlerin setzt sich offen für Female Power, Sex-Positivität, Spiritualität und Selbstakzeptanz ein. Wir sprachen mit ihr und ihrem Produzenten Vice Cooler.

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Beat / Was könnt ihr über euer bisheriges musikalisches Leben erzählen?

Louisahhh / Zu Beginn meiner musikalischen Karriere Anfang der 2000er-Jahre war ich DJane. Um 2010 begann ich mit Gesang für Künstler wie Danny Daze und Brodinski und entwickelte mich von dort aus weiter als Songwriterin und Produzentin. Meistens arbeitete ich mit Maelstrom zusammen, mit dem ich 2015 auch das Label RAAR gegründet habe. Mein Album ist ein beabsichtigter Schritt in Richtung Live-Sound, der im Kontext einer Band funktionieren kann. Ein Lebenstraum zusätzlich zu den DJ-Sets!
Vice / Ich bin ein in Los Angeles ansässiger Produzent, der seit 1998 Musik macht. Ich hatte das Glück, die Welt mit dem Machen von Lärm bereisen zu können und habe rund 100 Veröffentlichungen herausgebracht.

Beat / Du warst unter anderem an Produktionen von Peaches und Ladytron beteiligt. Waswar deine Rolle dort?

Vice / Peaches’ „Rub“ habe ich produziert, arrangiert und geschrieben. Wir haben das ganze Album zwischen ihrer Garage und meinem Haus über einen Zeitraum von zwei Jahren gemacht. Es hat wirklich Spaß gemacht und ich habe viel gelernt. Für Ladytron haben Mira Aroyo und ich die Songs „Paper Highways“ und „Horrorscope“ auf ihrer selbstbetitelten letzten Platte geschrieben. Insbesondere diese beiden Songs haben viel Spaß gemacht, weil Mira alle Drumlines geschrieben hat. Da sie keine ausgebildete Schlagzeugerin ist, trifft sie mitunter seltsame und interessante Entscheidungen, die für mich als jemand, der schon sein Leben lang Schlagzeug spielt, aufregend zu hören sind. Ich liebe es, in dieser kreativen Atmosphäre an Musik zu arbeiten.

Beat / Louisahhh, du wurdest in New York geboren, lebst aber in Paris. Fühlst du dich eher als Amerikanerin oder Europäerin?

Louisahhh / Das ist eine komplizierte Frage. Ich zog 2013 auf Geheiß meines damaligen Labels Bromance nach Frankreich, sprach kein Wort Französisch und fühlte mich, als würde ich aus einem Flugzeug springen und müsste alles, was ich wusste, für etwas Neues aufgeben. Das war für mich eine große Herausforderung, aber das sind Veränderungen generell für mich. Das ist jetzt acht Jahre her und ich fühle mich wie in einem ewigen Grenzzustand. Nicht europäisch, aber auch nicht mehr amerikanisch. Ich bin glücklich und dankbar, nun in Frankreich zu leben, und ich kann mir nicht vorstellen, bald in die USA zurückzukehren, was irgendwie auch traurig ist.

Beat / Dein Daily Business ist nach wie vor die Labelarbeit, oder?

Louisahhh / Ja. RAAR ist das Label, das ich mit Maelstrom gegründet habe, um „Technomusik für Punks und Punk für Techno-Heads“ zu machen. Im Moment arbeiten wir daran, Maelstroms zweites Album, „Rhizome“, zu veröffentlichen, das am 12. März 2021 herauskommt. Die Dinge laufen geschäftlich ziemlich reibungslos ab. Auf persönlicher Ebene besteht das tägliche Geschäft daraus, kreativ zu bleiben und die geistige Gesundheit mit viel körperlicher Aktivität zu bewahren. Da wir uns immer noch in einer Pandemie befinden, ist mein Alltag sehr reduziert. Er besteht hauptsächlich aus Yoga, Reiten, Laufen, Fahrradfahren und Schreien in die Leere, unterbrochen von einigen Live-Stream-DJ-Sets.

Beat / Woher kommt der Name Louisahhh mit den drei hs?

Louisahhh / Zu viel Kokain am Anfang. Ich denke, es ist zu spät, um das jetzt zu ändern. [lacht]

Beat / Wie habt ihr beide euch kennengelernt?

Vice / Ich glaube, es war durch unseren gemeinsamen Freund David Scott Stone, der bei den Melvins und LCD Soundsystem gespielt hat. Obwohl ich mich ehrlich gesagt nicht genau erinnere, wann oder wie wir uns getroffen haben.
Louisahhh / Ja, Dave stellte uns vor. Irgendwann streckte Vice die Hand aus und schlug vor, dass wir zusammen Sachen machen. Das war um 2017. Der erste Tag verlief sehr gut und wir haben dann einfach weitergemacht.

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Beat / Ihr mischt Techno mit Industrial, Punk und Alternative Rock sowie vielen anderen Einflüssen. Welche Musik hat euch maßgeblich beeinflusst?

Louisahhh / Ich bin mit vielen „Frauen im Rock“ aufgewachsen und war besessen von Garbage und Shirley Manson. Darüber kam ich zu Siouxsie Sioux und Chrissie Hyde sowie Patti Smith und Debbie Harry. Andere frühe Einflüsse waren definitiv industrieller und rockiger Art: Nine Inch Nails, Iggy Pop, Elvis Costello, die Smashing Pumpkins und John Frusciante. Musik mit Gitarren UND Drumcomputern war der Bereich, der mich immer am meisten interessierte.
Vice / Keiner von uns hört ausschließlich ein Genre. Ich denke, unser Ziel ist es, etwas zu kreieren, das aggressiv und interessant und wie keine andere Band oder ein bestehendes Genre klingt.

Beat / Was ist für dich die Essenz von „The Practice Of Freedom“?

Louisahhh / Ich denke, bei dieser Platte geht es sowohl um eine Abkehr von der sichereren Welt der „Clubmusik“, die sehr formelhaft sein kann, als auch um die Rückkehr zu meinen Wurzeln mit mehr Song-basierten, lyrischen Ideen. Ich denke auch, dass es bei der Platte darum geht, die mir innewohnende klangliche Aggression zu bewahren und zu verstärken und darum, dass die Musik immer noch sehr körperbetont ist. Man kann immer noch dazu tanzen, aber es geht wirklich um etwas, es hat Eier. Ich bin so dankbar, dass dies nun mein Debütalbum ist. Ich weiß nicht, ob ich früher bereit dazu wäre.

Beat / Die Musik klingt sehr rau. Gab es Tricks, wie ihr die Musik so kantig gestaltet habt?

Vice / Verschiedenste Verzerrungen ...
Louisahhh / Die Zusammenarbeit mit Vice war ein echtes Geschenk, da er klanglich völlig furchtlos ist und es für ihn nicht den einen „richtigen“ Weg gibt, Dinge umzusetzen. Sein Ansatz ist: Hauptsache, es klingt cool, egal wie es gemacht wurde. Ich habe viele Tracks mit einem billigen USB-Mikrofon unter bescheidenen Bedingungen aufgenommen, und ich denke, die „Fehler“ des Aufnahmeprozesses in Kombination mit Vices gesundem Perfektionismus und der Beharrlichkeit, mit der Dave Pensado die Platte gemischt hat, lässt das Ganze wirklich besonders und einzigartig klingen. Es ist intim und gewalttätig.

Beat / Wie funktioniert eure Zusammenarbeit im Detail?

Louisahhh / Es ist toll, einen Kollaborateur wie Vice zu haben, da ich ihm in Bezug auf Geschmack und Ehrlichkeit sehr vertraue. Er sagt mir, wenn etwas nicht funktioniert. Und da er wirklich direkt ist und hohe Standards hat, weiß ich, dass er es ernst meint, wenn er sagt, dass etwas gut ist. Ich glaube auch, dass sich unsere Zusammenarbeit weiterentwickelt. Wir haben bereits ein zweites Album in Arbeit und es wird mit jedem Track einfacher und komfortabler. Ich habe das Gefühl, dass unser Vertrauen und unsere Kommunikation zunehmen und dies in der Musik deutlich wird. Letztendlich schicken wir Sachen hin und her, bis es ein Lied ist.
Vice / Wir arbeiten auf verschiedene Arten, je nachdem, ob wir physisch zusammen in einem Raum sind oder nicht. Aufgrund von Covid arbeiten wir derzeit ausschließlich per E-Mail zwischen Paris und Los Angeles. Es beginnt mit einigen meiner Loops oder instrumentalen Ideen und sie schreibt etwas darüber. Sobald wir eine gute Idee haben, beginnen wir uns von dort aus anzupassen. Unser Workflow ist zu diesem Zeitpunkt relativ schnell und wir können ein Lied in ein oder zwei Tagen schreiben und fertigstellen.

Beat / Wie sah euer Songwriting- und Produktions-Setup aus?

Vice / Ich arbeite oft nur mit einem Laptop und tendiere dazu, minimale Setups mit weniger Auswahlmöglichkeiten gegenüber komplexeren zu bevorzugen. Aufgrund von Covid habe ich derzeit ein Heim-Setup mit HR824-Monitoren, viel Moog-Kram, einen einfachen modularen Skiff, einigen Fender-Gitarren, einen Supro-Verstärker und ein Schlagzeug, die alle angeschlossen und einsatzbereit sind. Ich habe auch eine beträchtliche Anzahl von Pedals, hauptsächlich von Earthquaker Devices. Ich habe diese bei fast jedem Song fürs Re-Amping verwendet. Während der Zeit, in der ich mit Louisahhh Songs für das Album geschrieben habe, kam eine Menge Equipment in mein Studio hinein und wieder heraus. Das heißt, die Sounds entstammen diversen Geräten, darunter auch Native Instruments, Izotope, Gamechanger, Korg, Realistic, TAL, Serum, Istanbul und Roland.
Louisahhh / Durch die Proben für die Live-Band ging es in diesem Jahr bei mir viel um Gesangstraining, was mich viel sicherer gemacht hat, sodass ich wilder und dynamischer schreiben und singen kann. Ich mache jeden Abend beim Abwasch vokale Aufwärmübungen und arbeite Melodien aus. Wenn ich mich später beim Aufnehmen nicht mehr an eine Idee erinnern kann, war sie nicht stark genug. Ich schreibe ständig und mache mir Notizen in meinem Telefon, wenn mir eine Zeile in den Kopf springt oder ich etwas in einer Fernsehsendung höre oder etwas in einem Buch lese, das sich wie ein guter Text anfühlt. Bei den Aufnahmen halte ich es sehr einfach: Ein Apogee Duet mit einem Shure Beta 58A. Ich habe einen Elektron Analog Rytm sowie eine NI-Maschine und eine fantastische 65er Fender Jaguar in einem schrecklichen Marshall Valvestate Amp. Aber ich verwende diese eher für Remixe als für meine Zusammenarbeit mit Vice.

Beat / Vice, du hast vor einer Weile das DFAM-Sample-Pack mit semi-modularen Drum-Sounds veröffentlicht. Hast du es für Louisahhhs Musik benutzt?

Vice / Für mich ist der Moog DFAM eines der inspirierendsten Instrumente, auf dem ich je geschrieben habe. So sehr, dass ich derzeit drei davon habe. Das erste Lied, das ich auf einem dieser Geräte schrieb, war das Instrumental für Louisahhhs Song „Love Is A Punk“. Bei diesem Song handelt es sich hauptsächlich um die Variationen einer einzelnen Sequenz, auf die einige Live-Drums gestreut sind. Ich wollte schon seit Jahren ein Sample-Pack mit den Klängen des DFAM erstellen, hatte aber nie die Zeit, mich dem zu widmen. Während Covid nutzte ich die weltweite Pause, um ein paar Wochen damit zu verbringen, Hunderte von Drum-Samples mit dem Instrument zu machen. Ich denke, das Sample-Pack ist großartig geworden und ich bin beeindruckt von der Musik, die andere Produzenten damit gemacht haben.

Beat / Habt ihr modulares Equipment für die Produktion verwendet?

Vice / Obwohl es technisch gesehen semi-modular ist, gibt es eine beträchtliche Menge an MOOG-DFAM-Sounds auf dem Album. Ich habe danach aber noch ein Skiff bekommen, das Module von Earthquaker, Make Noise, Intellijel und Doepfer enthält.

Beat / Louisahhh, du bist auch aktivistisch engagiert. Gab es eine Initialzündung dafür?

Louisahhh / Ich bin seit 2006 drogenfrei und versuche seitdem dort zu handeln, wo ich Ungerechtigkeit wahrnehme, und für das einzustehen, was ich liebe. Dies kann viele Formen annehmen, vom Einstehen für psychische Gesundheit über den intersektionellen Feminismus bis hin zur Forderung nach einer nachhaltigeren wirtschaftlichen Infrastruktur in der Musikindustrie und auf globaler Ebene, dass man sich lautstark und aktiv gegen das weiße, überlegene kapitalistische Patriarchat stellt, das die Chancengleichheit für alle behindert.

Beat / Vor allem Feminismus und Sex-Positivität sind zwei Aspekte, für die du eintrittst. Was ist deine Vision einer besseren Welt?

Louisahhh / Gleichstellung der Geschlechter und einwilligungsbasierte Sexualpraktiken als soziale und wirtschaftliche Norm wären ein guter Anfang. Ich denke, dass die Bewegung in Richtung Sexpositivität und Feminismus wichtig ist, aber es erfordert viel Entspannung von einer Kultur, die von Natur aus sexphobisch ist und von einem kapitalistischen, weißen Patriarchat dominiert wird, das davon lebt, Menschen zu sagen, dass sie nicht genug sind. Ich denke, meine Arbeit im Moment befasst sich damit, dass ich mich bewusst von überholten Ideen befreie, wo auch immer ich noch subtil mit dem alten System verstrickt bin, und nach mehr Gleichheit und Freiheit suche. Außerdem möchte ich andere ermutigen, dasselbe zu machen.

Beat / Du hast auch deinen eigenen Podcast Sober Sex. Denkst du, dein Podcast oder deine Musik hat mehr Einfluss auf die Menschen?

Louisahhh / Ich bin mir über den Einfluss nicht sicher. Wir haben den Podcast gestartet, weil es wichtig war, Gespräche darüber zu führen, wie spirituelle Integrität und Authentizität in Bezug auf Sexualität aussehen. Es war wirklich lustig, inspirierend und lehrreich. Der Inhalt des Podcasts informiert über meine Arbeit in der Musik und umgekehrt.

www.facebook.com/louisahhhofficial

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