Für Sven Väth war das Auflegen nie nur ein Beruf. Es war sein Leben und er hat es in vollen Zügen genossen. In einem fesselnden Bildband - passenderweise im Format einer 12-Zoll-Vinylplatte, mit einem Gewicht von 3,5 Kilo und 350 Seiten voller Geschichten und unglaublicher Fotografien – lässt er nun die Höhepunkte seines Lebens Revue passieren. Zusammen dokumentieren sie nicht nur seine eigenen Erinnerungen und die seiner unzähligen KollegInnen – sondern das explosive Wachstum elektronischer Tanzmusik als Ganzes.
Wir sprechen im ausführlichen Interview mit dem “Baba” über Techno, Kultur, sein Buch, die Vergangenheit und natürlich auch die Zukunft!

Beat / Inwiefern hat sich die Tanzkultur seit Ihrer Zeit im Omen bzw. später auf Ibiza verändert?
Sven Väth / Die Energie war einfach grandios bei diesen After Hours, danach haben die Leute geradezu gelechzt. Du wurdest ständig gefragt: „Wo ist die After, wann ist die After?“ Das kannst du heute gar nicht mehr machen, weil dann die Clubbetreiber um ihren Umsatz fürchten und im Zweifelsfall nicht mehr mit dir arbeiten wollen. Außerdem kriegst du keine Locations mehr. Da ist die Polizei viel zu sehr dahinter. Und seit der Corona-Pandemie ist es natürlich auch so, dass inzwischen sehr viel privat stattfindet. Private, geheime Villa-Partys, die haben sich auch ein bisschen breit gemacht in den letzten Jahren. Also ich sag es mal so, da gab es dann gewisse Gönner, die haben viel Geld in die Hand genommen und haben auch die DJs sogar bezahlt für eine After Hour, was ich ein bisschen schräg fand. Aber dass du da so guerillamäßig an den Beachclub gehen kannst und sagst: „Komm, lass mich mal auflegen, wir machen mal ein paar Stunden Party hier.“ Das geht leider nicht mehr. Was schade ist, weil das ja auch ein ganz wichtiger Teil von dieser Kultur und dieser Szene war. Heute ist alles sehr kommerziell und professionalisiert
Beat / Ein Freund von mir hat jeden einzelnen deiner Clubnight-Mixe auf Kassette aufgenommen - diese Bänder wurden Teil des Soundtracks unseres Lebens. Was, glaubst du, hat diese Musik und das damalige Club-Erlebnis so unglaublich stark gemacht?
Sven Väth / Weil sie echt war. Weil sie aus einem tiefen Bedürfnis heraus entstand. Techno war nicht nur ein weiteres Musikgenre - es war ein Statement, eine Haltung, eine Lebenseinstellung. In den späten 80ern und frühen 90ern waren Clubs Zufluchtsorte, Laboratorien für neue Ideen, kollektive Fluchtmaschinen. Und das Omen war mehr als ein Club - es war ein Mythos, ein Ritual, ein sich ständig weiterentwickelnder Organismus. Die Energie dort war roh, ungefiltert und kompromisslos. Er war ein Katalysator für kreative Energie, ein Treffpunkt für Musiker, Künstler und Visionäre. Hier ging es nicht nur um das Feiern, sondern um das Erleben und Gestalten einer neuen kulturellen Bewegung. Diejenigen, die das erlebt haben, werden diesen Vibe für immer in sich tragen.
Beat / Wie viel von der Bedeutung von Techno und House erschließt sich nicht nur beim Hören, sondern auch beim Tanzen?
Sven Väth / Techno und House sind nicht nur Klangstrukturen. Sie sind Energien, die sich durch den Körper bewegen und mit dem Raum verschmelzen. Ihr wahres Wesen offenbart sich erst in der Bewegung. Tanzen ist eine ursprüngliche Form des Ausdrucks, ein Zustand, in dem Gedanken und Gefühle eins werden. Er ist Befreiung und Hingabe zugleich - an den Moment, an den Rhythmus, an den Körper. Zuhören allein bedeutet, an der Oberfläche bleiben. Tanzen ist Eintauchen.
Beat / Daraus ergibt sich dann auch die gesellschaftliche Relevanz vom Clubbing.
Sven Väth / Genau, Tanz war schon immer ein Spiegel kultureller und sozialer Bewegungen, ein Ort der Identität und der Gemeinschaft. Wenn wir tanzen, brechen wir aus Hierarchien, aus Rollen, aus Zwängen aus - zumindest für eine Weile. Und genau darin liegt die subversive Kraft dieser Musik. Die Events, die dort stattfanden, waren mehr als nur Partys – sie waren Erlebnisse, die die Grenzen der Realität verschoben haben und uns in eine andere Welt eintauchen ließen.
DJs als Visionäre
Beat / Als du angefangen hast, was waren deine wichtigsten Erkenntnisse im, Hinblick auf das DJing?
Sven Väth / Die DJs dieser Ära waren mehr als nur Musikliebhaber. Sie waren Visionäre, die den Sound von gestern in den Kontext des Heute setzten und dabei unbewusst die Zukunft gestalteten. Der Frankfurter Dorian Gray Club wurde in dieser Zeit zu meinem Tempel. DJs wie Bijan Blum, Michael Münzing und Ulli Brenner waren meine Lehrmeister. Ihre Kunst des Mixings – das Mischen, das Beat-Cutting, die Manipulation von Filtern und Equalizern – hat mir die Augen für die unbegrenzten Möglichkeiten, die Musik bietet, geöffnet.
Beat / Was bedeutet es, ein guter DJ zu sein?
Sven Väth / Ein guter DJ versteht den Raum, die Leute und den Ablauf des Abends. Es geht nicht nur um Technik, sondern auch um Wahrnehmung. Man muss wissen, wann man Spannung aufbaut und wann man sie abbaut. Wann man gegen den Strom schwimmt und wann man sich dem Strom hingibt. Und man wird nicht allein durch mechanisches Wiederholen besser; man wächst, indem man ständig über seine eigenen Grenzen hinausgeht, indem man sie neu entdeckt, indem man sie wieder verlernt. Stillstand ist der Feind.
Beat / Warum ist das Auflegen für dich nach all den Jahren immer noch so inspirierend?
Sven Väth / Weil es ein lebendiger Dialog ist. Ein DJ-Set ist keine feste Komposition, es ist eine fließende Struktur, die in Echtzeit Gestalt annimmt. Jeder Abend ist anders, jedes Publikum bringt eine einzigartige Energie mit, jeder Raum hat seine eigene Akustik, seine eigene Geschichte. DJing ist Intuition, Reaktion, Antizipation - eine ständige Navigation zwischen Kontrolle und Hingabe.Die Magie liegt in der Unvorhersehbarkeit. Und es gibt nichts Schöneres als den Moment, in dem alles zusammenpasst und der ganze Raum zu einer einzigen pulsierenden Einheit wird.
Beat / Wonach suchst du, wenn du nach Musik für deine Sets suchst? Geht es nur um Geschmack, oder geht es um mehr als Geschmack?
Sven Väth / Geschmack ist nur der Ausgangspunkt. Ich suche nach Resonanz. Nach Musik, die mich bewegt, die mich überrascht, die mich zwingt, anders zu denken. Es geht nicht darum, Sounds anzuhäufen - es geht darum, Geschichten zu finden, die erzählt werden wollen.
Beat / Wie würdest du die Interaktion mit dem Publikum und den Tänzern während eines Auftritts beschreiben - wie fühlt es sich an?
Sven Väth / Ein Auftritt ist eine stille Unterhaltung. Keine Worte, nur Signale, Wellen, Impulse. Man liest die Körpersprache, die Intensität der Bewegung, das Flackern in den Augen. Und manchmal gibt es diesen Moment, in dem alles zusammenläuft - das ist der Höhepunkt.
Beat / Wie verändert sich das Erlebnis, wenn man das Publikum entfernt, wie bei Online-Mixen?
Sven Väth / Online-Mixe sind eher introspektiv, fast meditativ. Man spielt für sich selbst, für einen imaginären Zuhörer. Es ist eine andere Art von Reise.
Telepathische Erfahrungen
Beat/ Was hältst du von Back-to-Back-Sets, Interaktionen mit Live-Musikern oder anderen Möglichkeiten, DJing zu einem noch lebendigeren, kollektiveren Dialog zu machen?
Sven Väth / DJing ist oft ein einsames Handwerk. Aber es gibt Momente, in denen eine zweite Energie neue Wege eröffnet. Back-to-Back-Sets können eine spielerische, fast telepathische Erfahrung sein, wenn die Chemie stimmt. Live-Interaktionen hingegen bringen ein Element der Unvorhersehbarkeit mit sich, eine Ungeschliffenheit, die den Moment einzigartig macht. Die Magie liegt in der richtigen Balance zwischen Struktur und Chaos.
Beat / Es gibt zahllose Möglichkeiten, zwei oder mehr Tracks miteinander zu verbinden. Was macht einen guten Übergang aus?
Sven Väth / Es geht um Energie, Klangfarben, den unsichtbaren Raum zwischen den Noten. Manche Tracks verschmelzen auf natürliche Weise, andere erzeugen Reibung - beides kann sehr effektiv sein, wenn es bewusst eingesetzt wird. Ein perfekter Übergang ist mehr als nur ein technischer Prozess; er ist ein erzählerischer Moment. Er öffnet ein Portal von einem Zustand zum nächsten.
Beat / Glaubst du, dass auch eine DJ-KI jemals in der Lage sein wird, dieses Portal zu öffnen?
Sven Väth / KI kann analysieren, generieren, vorhersagen. Aber sie kann nicht fühlen. Sie hat keine Intuition, keine Irrationalität, keine Magie. Sie kann Werkzeuge zur Verfügung stellen, Inspiration bieten, vielleicht sogar neue Perspektiven eröffnen. Aber die Essenz des DJings ist menschlich. Sie liegt in der Empathie, in der Spontaneität, in der Unvollkommenheit. Und das ist etwas, das keine Maschine ersetzen kann.
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