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Gesten ohne Gefahr

In den Neunzigern und den ersten Jahren des neuen Jahrtausends wurde China gelegentlich als schlafender Riese bezeichnet. In gewisser Weise passt der Begriff noch immer. Denn während die Wirtschaft inzwischen die Zipfelmütze abgestreift hat, ist die Musikszene des Landes bis heute nicht aus den Albträumen der kulturellen Revolution aufgewacht. Als ich 2009 vor Ort war, besuchte ich alle angesagten Locations der aufkeimenden Elektronik-Szene: den winzigen Sugar-Jar-Plattenladen, in dem, aneinander gequetscht und vom Fußboden bis zur Decke, die aktuellen CDs an der Wand hingen.

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Oder das 2Kolegas, eine der führenden Bars und Konzerträume in Beijing, dessen unspektakuläres Ambiente lediglich noch von der Konventionalität der dort gespielten Musik übertroffen wurde. Schließlich wanderte ich auf der Suche nach interessanten Multimedia-Projekten stundenlang über das riesige 798-Kunstgelände, ohne dabei wirklich fündig zu werden. Spannend war die Reise trotzdem allemal, doch wird man zunehmend den Eindruck nicht los, dass sich ein zweiter Besuch wohl kaum lohnen würde. Denn auch wenn seitdem drei Jahre ins Land gegangen sind, sind die maßgeblichen Musiker, Locations und Labels weitestgehend die gleichen geblieben.

Komplexe Wahrheiten

Diese seltsame Starre mag Außenstehender verwirren, vor allem, da das Regime zumindest augenscheinlich experimenteller Musik eher gleichgültig gegenüberzustehen scheint. Wie die 100-minütige Dokumentation "Fuck You" der beiden belgischen Labelbetreiber und Filmemacher Guy-Marc Hinant und Domonique Lohlé nun belegt, ist die Wahrheit zu komplex für allzu einfache Erklärungsversuche. Der Film ist passenderweise nicht als romantischer Road-Trip oder akademische Hochglanz-Reportage angelegt, sondern vielmehr als eine genial-dilettantisch geschnittene Aneinanderreihung von aus unmöglichen Winkeln geführten Interviews, gelangweilt geschossenen Konzertaufnahmen und scheinbar zufällig eingefangenen Augenblicken. Hinant und Lohlé sind keine professionellen Regisseure, sondern Musik-Freaks, die ihren unstillbaren Durst nach aufregenden globalen Klängen auf der bis dato umfangreichsten Zusammenstellung chinesischer Klangkunst, einer 4-CD-Box mit umfangreichem Booklet, bereits vor zwei Jahren auf ihrem eigenen Sub-Rosa-Label ausgiebig dokumentiert haben. Und obwohl sie unendlich viele Fragen stellen, bedeutet das für sie noch lange nicht, dass sich daraus unmittelbar mundgerechte Thesen ableiten ließen - was auf der DVD vornehmlich dadurch zum Ausdruck kommt, dass man sich, ins kalte Wasser geschmissen, selbst einen narrativen Faden zusammenflicken muss.

Reine Kopie

Für den kulturellen Kommentar und eine Art Erzählerperspektive ist auf "Fuck You" jemand anders zuständig, nämlich der polnische Noise-Pionier und Komponist Zbigniew Karkowski, der in China aktiv war und aus jahrelanger Erfahrung zu einem tiefen Verständnis der lokalen Befindlichkeiten gelangt ist. Für Karkowski steht fest, dass der größte Teil der in China derzeit produzierten Musik eine reine Kopie westlicher Formen darstellt, eine Übernahme von musikalischen Hülsen ohne eine Verinnerlichung der durch sie ausgedrückten Inhalte, Philosophien und Lebensmodelle. Der Widerstand ist hier kaum mehr als eine Geste, von der keine Gefahr ausgeht - die zeitlupenhafte Stilisierung eines Tai-Chi-Tänzers statt der geballten Faust eines Karatekämpfers. Man kann verstehen, weswegen die Behörden nur wenig Gefahr wittern, wenn die in "Fuck You" gestellten Fragen immer wieder ins Leere laufen, wenn die Künstler freiwillig ihre Parolen verwässern, radikale Statements ins Nichtige und Belanglose verkehren: Die Industrial-Band Torturing Nurse beispielsweise betont, ihre aggressive Musik sei keine Auflehnung, sondern konstruktive Kritik, während der vielseitige Laptop-Musiker Wang Chancun geradezu Mantra-haft wiederholt, "Musik sei einfach nur Musik". Es braucht eine geschlagene Stunde, ehe Karkowski der Geduldsfaden reißt und er in einer privaten Diskussion mit verschiedenen führenden Musikern den Gitarristen Li Jianhong damit konfrontiert, ihm diese neutrale Haltung nicht abzunehmen. Immer wieder lässt sich Jianhong lächelnd der Lüge bezichtigen, doch in seinen nur scheinbar naiven Antworten wird sie spürbar, die unausgesprochene, unaussprechbare Angst vor den Konsequenzen.

Es ist das zentrale Dilemma, dass sich der aktuellen Künstlergeneration präsentiert: Bleibt ihre Musik unverbindlich, so bleibt sie ohne Wirkung, wird sie politisch, zerstört sie sich selbst. Um so erstaunlicher, dass die radikalsten Aussagen ausgerechnet von dem Pionier Sun Meng Jin kommen, der den Horror der kulturellen Revolution noch am eigenen Leib erfahren hat. Was ihn von seinen jüngeren Kollegen unterscheidet, so die Schlussfolgerung, ist, dass er noch weiß, wofür es sich zu fürchten lohnt - für seine Nachkommen sind die Ausläufer des Terrors derweil zu einem unterbewussten Trauma geworden.

www.subrosa.net

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