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Digitale Kultur: Data-Mining

Wenn sich Geheimdienste in private Daten einhacken, ist der Aufschrei groß. Unternehmen aber nutzen schon lange private Informationen ihrer Kunden zur gezielten Zielgruppenansprache, ohne dass sich spürbarer Widerstand regt. Auch die Musikbranche steigt nun in das Geschäft der großen Zahlen und Statistiken ein – wie viel Privatsphäre bleibt uns noch?von Tobias Fischer

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Will Page kann seine Erregung kaum verbergen. Seit knapp über einem Jahr ist er nun bei dem schwedischen Musikstreaming-Dienst Spotify beschäftigt und dort für die Analyse der riesigen Datenmengen zuständig die täglich gesammelt und ausgewertet werden. In seinen Aufgabenbereich fällt es zu ermitteln, welche Playlists einen bestimmten Song in der Publikumsgunst nach vorne bringen, welche Faktoren einen viralen Effekt begünstigen oder warum sich ältere Hörer anders verhalten als jüngere. Schon jetzt kann er zur Beantwortung dieser Fragen auf bemerkenswert tiefgehende Informationen zurückgreifen. So ist Spotify bekannt, ob ein Stream von dem eigenen Interface oder über Facebook generiert wurde, von einem Mann oder einer Frau, wie alt diese Person ist und wo sie sich im Augenblick des Musikkonsums befand. Das Einzige, was jetzt noch fehlt, ist die direkte Verbindung zwischen den Daten und der Technologie. Doch arbeitet Page bereits daran. Bei einem Festival in den USA erhielten Besucher ein elektronisches Armband, das ermittelte, welche Bands man sich dort angesehen hatte. Sobald der Anwender später sein Spotify-Konto öffnete, fand er dort eine neue Playlist, die direkt darauf aufbaute. Zwar betont Page immer wieder, dass die Anonymität des einzelnen Kunden stets gewährleistet sei. Aber angesichts der sich daraus ergebenden Zukunftsaussichten kommt auch er ins Schwärmen: „Das Festival war für uns ein riesiger Schritt, um Spotify mit dem Live-Musik-Markt zu verbinden. Das kann aber auch bei anderen Events passieren. Und am nächsten Morgen wachst du auf und Spotify weiß, wo du letzte Nacht warst.“ [1]

Leute wie Page sind derzeit extrem gefragt. Data-Mining gilt sogar als der sexieste Job der Welt [2], Customer-Relationship-Management (CRM) als das neue Zauberwort und als die Wachstumsbranche schlechthin. In den meisten Wirtschaftszweigen war das schon lange so, nur die Musikindustrie hinkte lange hinterher. Was sicherlich zum einen daran liegt, dass ein professionelles CRM sogar für viele Riesen der Branche kaum zu bezahlen ist. Vor allem aber hegen viele Kreative eine tief verwurzelte Abneigung gegen die Aussagekraft von Statistiken für ein so emotionales Produkt wie Musik. Und so investierte man stattdessen lieber in intelligente Software, welche aus den inhärenten musikalischen Parametern eines Songs seine Hit-Fähigkeit ableiten sollte. Inzwischen hat sich dieser Pfad weitestgehend als Irrweg entpuppt und erscheinen die Heilsversprechen des weniger smarten, aber zu schnelleren Ergebnissen führenden CRM einfach zu verlockend, als dass man sie ignorieren könnte. Mark Uttley, der selbst von einer Spitzenposition bei Sony in den Data-Mining-Bereich gewechselt ist, hat diese einmal mit folgender Frage auf den Punkt gebracht: „Kennst Du die 100.000 größten Fans einer Band – und hast du ihre Kontaktdaten?“ [3] Für ihn und seine Kollegen ist klar, dass Leidenschaft für ein Produkt wie Musik sich letztendlich auch in Verkäufen niederschlagen wird, wenn man sich diese Informationen zunutze macht. Und wenn es eben keine CDs sind, die dabei über den Ladentisch wandern, dann doch vielleicht „Leona-Lewis-Bettwäsche, gebrandete Kopfhörer von Musikstars oder Dance-Studios, die auf einem Lizenzgeschäft beruhen.“ Auch Kooperationen mit Herstellern anderer Branchen sind denkbar. So bietet Reebok bereits in Kooperation mit einigen Labels Musikmixe an, die speziell auf bestimmte Workouts ausgerichtet sind.

Fokussierung

Um auf die Bedürfnisse der Musikschaffenden eingehen zu können, haben sich einige Firmen speziell auf sie fokussiert. So wirbt das Unternehmen Next Big Sound damit, durch die Auswertung von Daten aus sozialen Medien die Aufsteiger und Hits der Zukunft voraussagen zu können. Ähnliches geschieht auch bei dem englischen Spotify-Konkurrenten Shazam, der sich durch sieben Millionen Tags pro Tag hindurcharbeitet, um Trends vorherzusehen. Damit, so der bei Shazam für Musik und Inhalte zuständige Will Mills, könne man auffällige Tag-Muster erkennen und ungewöhnliches Hörverhalten rund um einen bestimmten Track. Die Erkenntnisse fließen dann in eine prospektive Top-Ten ein, in der neben vielen bekannten Größen auch einige derzeit noch unbekannte Namen vertreten sind [4]. An der Universität von Bristol arbeitet derweil Tijl de Bie an einer „Hit-Potenzial-Gleichung“, mit der sich angeblich die größten Charts-Erfolge der letzten Jahrzehnte – und, so hofft man, auch die, der nächsten – mit einer Wahrscheinlichkeit von 60% ermitteln lassen [5]. Doch der König der Musik-Data-Miner ist Echo Nest, das sich damit brüstet, eine Trillion Datenpunkte mit 30 Millionen Songs zu verknüpfen und damit seinen Geschäftspartnern umfassende Informationen zur Verfügung stellen zu können. Nicht alle Erkenntnisse sind gleich faszinierend, doch gibt es durchaus einige unmittelbar praxisrelevante Ergebnisse. So bemerkte man, dass dem Kauf eines Downloads sehr oft das Anschauen des dazugehörigen Videoclips auf Youtube voranging. Die Schlussfolgerung für Plattenfirmen: Dem schon ausrangierten Videoclip neues Leben einhauchen, um Zweifler zu Kunden zu machen. Ebenso interessant: Die Mehrheit von Hörern begibt sich vor dem Kauf eines neuen Albums auf die entsprechende Wikipedia-Seite des Künstlers – woraus sich die Aufgabe ergibt, diese ständig zu aktualisieren und mit Inhalten zu füttern [6].

Echo Nest, ein noch junges Unternehmen, ist sich der aktuellen Grenzen seiner Arbeit bewusst. Doch steht man laut Geschäftsführer Jim Lucchese auch lediglich am Anfang. Worum es ihm in letzter Konsequenz geht, ist ein mysteriöses Konstrukt namens „Musical Identity“, das die kompletten Persönlichkeitsmerkmale eines Hörers aus seinen musikalischen Präferenzen ermittelt. Die Logik dahinter ist, dass Musik ein sehr starker Indikator für soziale, politische und allgemeine kulturelle Vorlieben bildet. „Unser Musikgeschmack ist etwas ungemein persönliches“, so Lucchese. „Es ist ein unglaublich wichtiger Teil davon, wie wir uns definieren und wie wir kommunizieren, wer wir sind. Wenn wir das Radio anschalten oder eine CD hören, ist das eine passive Erfahrung. Aber sobald wir uns online begeben, wird daraus ein Zweirichtungsverkehr. Jetzt hörst nicht nur du Musik, sondern die Musik hört auch dir zu – wenn du etwas suchst, wann du zum nächsten Song vorspulst, welche Bewertung du einem Track gibst, welche Lieder du als Favorit kennzeichnest und welche du aus deiner Playlist schmeißt oder mit Freunden teilst. Indem wir diese Ausdrücke deines musikalischen Geschmacks analysieren, verstehen wir dich besser als Fan. Diese musikalische Identität war schon immer ein starker Indikator von anderen Dingen über dich. Wusstest du beispielsweise, dass es mit relativ hoher Genauigkeit möglich ist, die politische Gesinnung einer Person daran abzulesen, was sie hört? Nun, es ist tatsächlich möglich – und es ist uns gelungen.“ [7]

Früchte der Statistik

Zwar ist Echo Nest streng auf das B2B-Geschäft fokussiert, also auf finanzkräftige Großunternehmen. Doch können auch Musiker, unter Verwendung bedeutend einfacherer Mittel, die Früchte von Statistiken ernten. Als Paradebeispiel gilt die in San Francisco lebende Cellistin Zoë Keating. So stellte sie über privates Data-Mining fest, dass sie eine Menge Fans in London hatte, und buchte daraufhin den Vortext-Club in der Stadt für einen Auftritt. Die 100 Karten waren schnell ausverkauft. In Zusammenarbeit mit Songkick, einer auf London spezialisierten Live-Musik-Seite, plante sie daraufhin anschließend eine Performance in einer Kirche in Camden, welche Platz für die drei- bis vierfache Publikumsmenge bot. Gemeinsam führte man den Ticketverkauf risikolos über eine Crowdfunding-Kampagne durch und verkaufte erneut alle verfügbaren Plätze. Dass sie über Soundcloud-Kommentare, Facebook-Infos und Click-Through-Raten dabei auch ermitteln kann, welche Songs bei diesen Konzerten wohl am besten ankommen werden und welche ihrer Alben und in welchem Format sie ideal anbieten soll, erlaubt darüber hinaus eine noch bessere Zielgruppenansprache. Der Traum von einer professionellen Karriere als Musikerin und das Leben als reisende Mutter sind für sie dank Data-Mining zur Realität geworden. [8]

Doch hat die Medaille ganz offensichtlich auch ihre Kehrseite. Data-Mining-Befürworter und -Profiteure wie Jim Lucchese sehen ihre Aufgabe offiziell ausschließlich darin, Fans mit Unternehmen zu verbinden und in einer von riesigen Musikmengen beherrschten digitalen Welt für Übersicht zu sorgen. Was aber ist, wenn bereits ein Facebook-Click zu detaillierten Einsichten in das eigene Privatleben führt, wenn es politische Konsequenzen hat, die eigene Sammlung mit anderen zu teilen? Tatsächlich beweisen viele Fälle aus anderen ökonomischen Bereichen, wie grenzwertig vieles in diesem Wachstumssektor ist. So nutzt der amerikanische Einzelhändler Target ganz gezielt Datenanalysen, um bestehende Kunden sogar bei extrem intimen Sachverhalten anzusprechen. Bestes Beispiel: personalisierte Anzeigen für werdende Mütter. Als sich viele Adressaten lautstark darüber wunderten, wie man die Schwangerschaft in Erfahrung gebracht habe, gestaltete Target die Anzeigen einfach um und platzierte in den nächsten Kampagnen scheinbar willkürliche Werbung für andere Produkte neben den Windel- und Strampler-Angeboten. Für die Endkunden war das dahinter stehende Data-Mining dadurch nicht mehr erkennbar. [9]

Wer das nicht möchte, wird sich notgedrungen von der Offenheit der aktuellen Internetlandschaft verabschieden müssen. Denn, das hat Lucchese ganz klar betont, die Data-Miner sehen die in sozialen Netzwerken zur Schau gestellten Informationen ganz klar als Aufforderung, sie auch zu nutzen. Wer nicht neben Spotify aufwachen möchte, sollte das elektronische Armband deswegen möglichst schnell ablegen.

www.nextbigsound.com | www.echonest.com

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