Sind Berufsmusiker vom Austerben bedroht?

Geschrieben von Kai-Uwe Heuer
14.06.2011
22:40 Uhr

Von der Kunst zu leben, war noch nie einfach. Doch neue Beispielrechnungen scheinen zu belegen, dass sich die Situation zuspitzt. Digitale Vertriebsmodelle bieten Kreativen kaum noch eine realistische Chance, mit ihren Kompositionen auf den Mindestlohn zu gelangen. Sind Berufsmusiker eine vom Aussterben bedrohte Spezies?

(Bild: www.istockphoto.com/stock-photo-6230006-young-girl-is-discovering-the-surrouding.php)

Wer die Realität nicht akzeptiert, wird gemeinhin als Träumer abgestempelt. Krzysztof Wiszniewski hingegen bezeichnet sich lieber als einen Zyniker. Der Hauptsongwriter, Gitarrist und Manager der polnischen Hardrockband Viridian führt einen Blog, in dem er seine Gedanken zum Dasein als Musiker zum Besten gibt. Seine Thesen lassen dabei vor allem deswegen aufhorchen, weil in ihnen eine Stimme zu Wort kommt, die sich vehement dem medial verordneten Zwangsoptimismus verweigert. Dass Musik online zum kostenlosen Download erhältlich ist, findet Wiszniewski weiterhin verwerflich. Dass Politiker vor dem Internet als rechtsfreien Raum kapitulieren, ist für ihn schlicht Arbeitsverweigerung – und Copyright noch immer das beste Instrument, neue Talente zu fördern sowie Kreative für ihre Arbeit zu entlohnen.

Von Vertretern der Technologie-Branche lässt er sich keine heile Kreativ-Welt vorgaukeln, denn „ein Schneider fragt ja auch keinen Schreiner um Rat, wenn er einen neuen Anzug nähen möchte.“ Erbitterte Diskussionen mit Gegnern seiner Ansichten liefert er sich bereits seit Jahren. Doch besonders hoch ging es her, als Wiszniewski einmal den Taschenrechner in die Hand nahm und die digitale Realität nicht nur hinterfragte, sondern sorgfältig durchrechnete [1]. Denn das Ergebnis war eindeutig: Im Netz werden Musiker mit ihrer Kunst niemals ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Entweder sie ergreifen die Initiative, um das zu ändern – oder Berufsmusiker werden innerhalb weniger Jahre von der Bildfläche verschwinden.

Wiszniewskis Zahlen, die später dank einer anschaulichen Grafik [2] im gesamten Netz Verbreitung fanden, wurden von Anfang an angefochten: Da werde in einen Topf geschmissen, was nicht zusammengehöre, verglichen, was sich nicht vergleichen lasse. Es wurden Gegenrechnungen angestellt und philosophische Fragen erörtert. Doch gelang es keinem, die Grundtendenz der Aussage wirklich zu widerlegen: dass praktisch keiner mit Mechandising und Live-Auftritten alleine wirklich Geld verdient. Und dass keine der derzeitigen digitalen Verbreitungsmethoden, egal ob Abos, Online-Radio oder Downloads, jemals die gleichen Einnahmepotenziale wie die so rasch aus der Mode geratene CD bietet. Um auf das Niveau des amerikanischen Mindestlohns zu gelangen, muss ein Künstler laut Wiszniewski monatlich 143 CDs im Eigenvertrieb verkaufen, eine hohe aber vielleicht noch ansatzweise erreichbare Summe. Um über iTunes auf den gleichen Betrag zu kommen, werden hingegen 1229 Album-Downloads benötigt – dieselbe Menge wie im klassischen und längst als unfair abgestempelten Einzelhandels-Vertriebsmodell. Geradezu utopisch aber wird es bei dem Format, das gemeinhin als das der Zukunft der Industrie gehandelt wird: Streaming. Zumindest wollen viereinhalb Millionen Spielanfragen bei Spotify erstmal erreicht werden. Und so stellt sich die Welt für den Gitarristen vor allem so dar, dass Musiker das Spiel resignativ mitspielen, sich in ihr Schicksal fügen und mit dem physischen Tonträger das einzige Produkt aus der Hand geben, dass ihnen wirklich eine Chance auf Erfolg bietet.

Unterricht und Musiknutten

Mit dieser Philosophie fährt Viridian selbst nicht schlecht – zumindest kann Wiszniewski laut Eigenaussage von der Musik leben. Damit ist er, ganz klar, in der Minderheit. Ein kurzer Exkurs in einige Musikerforen hierzulande fördert schon recht bald eine eindeutige Tendenz zutage: Die einzigen ernstzunehmenden Einnahmequellen liegen in Cover-Bands, Auftritten bei Hochzeiten, Geburtstagspartys, Karnevalsfeiern und Stadtfesten, Musikunterricht oder maßgeschneiderten Angeboten für andere spezielle Anlässe. Kurz, wie es seitens der Betroffenen immer wieder so schön heißt, im Dasein als „Musiknutte“. Dass darin an sich nichts Verwerfliches liege, liest man dort recht oft. Zwar stimmt das auch, beschert den Beteiligten deswegen dennoch nicht gerade eine zufriedene Existenz. Stattdessen wird das tägliche Leben von Sorgen um den nächsten Auftrag, die Unmöglichkeit von Urlaub und den Verlust des magischen Gefühls gegenüber der Beschäftigung mit dem heiligen Gut Musik bestimmt. Für viele besteht die logische Konsequenz in einer möglichst breiten Streuung, in einem Hans-Dampf-in-allen-Gassentum. Doch wiegt das magere Einkommen den Stress nur selten auf. Da kann es kaum verwundern, dass eine Flötistin und Komponistin, die an dieser Stelle ungenannt bleiben soll, einen klaren Rat zur Hand hat: „Heirate einen tollen Typen, der gut verdient und dich in deiner Kunst finanziell unterstützt.“

Eines sollte man bei diesem verständlichen Lamento nicht vergessen: Die Vorstellung eines Berufsmusikertums, das über eine winzige Gruppe von Instrumentalisten und Autoren hinausgeht, ist eine extreme junge. Selbst im oft als „goldene Vergangenheit“ zitierten sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert waren die wenigen Profis dem Willen ihrer Förderer ausgeliefert und somit zu der Lieferung personalisierter Werke gezwungen: Johann-Sebastian Bach beispielsweise schrieb vor allem deswegen so viele Messen, weil dies von seiner Stelle als Kantor in Leipzig verlangt wurde. Alle, die sich in der Geschichte hingegen auf den Markt als Einnahmequelle verlassen haben, unterlagen ebenso dessen Schwankungen wie die besagten Schneider und Schreiner: Vivaldi verdingte sich als Musiklehrer in einem Mädcheninternat. Arnold Schönberg als Privatdozent. Der notorisch unter Geldsorgen leidende Mozart schrieb ohnehin für jede passende oder unpassende Gelegenheit. Der Wunsch, von der Kunst allein leben zu können, ist somit zwar ein hehrer, gegen dessen Realisierung jedoch die geballte Macht der Geschichte spricht. Was durchaus nicht nur, wie der zynische Wiszniewski behauptet, darauf zurückzuführen ist, dass der digitale Markt einer dringenden Verbesserung bedarf. Stattdessen entsteht für Berufsmusiker ein grundlegendes Paradox: Dass große Kunst nur unabhängig vom Markt entstehen kann – genau dieser aber für die Kunst, die er oft gar nicht haben will, bezahlen soll.

Ansichten aus der Praxis

Einer, der über diese Fragen aus der Praxis berichten kann, ist Markus Reuter [3]. Ende der Neunziger trat Reuter als Solo-Künstler auf den Plan, später entwickelte er mit „Centrozoon“, einer höchst unkonventionellen aber ungemein erfolgreichen Formation, die sich den Randbereichen experimenteller Musik verschrieben hat, einen sehr eigenwilligen und persönlichen Stil. Als einer der Ersten hierzulande erprobte er das Führen eines Internet-Tagebuchs zu einer Zeit, als noch keiner von „Blogging“ sprach sowie die kostenfreie Veröffentlichung eines Albums im Netz. 2008 gründete er die Firma Touch Guitars, die sich der Entwicklung von auf die individuellen Bedürfnisse von Gitarristen gerichteten Instrumenten verschrieben hat. Doch auch als Künstler gibt es genug zu tun: Reuter ist heute ein erfolgreicher Musiker, der von Kollegen ungemein gefragt ist. Als wir ihn für ein Gespräch treffen möchten, schiebt er 17-Stunden-Schichten im Studio – durchaus keine Seltenheit in seiner Welt. Dabei rieten ihm seine beiden wichtigsten Lehrer, Karlheinz Straetmann und King-Crimson-Legende Robert Fripp, unabhängig voneinander davon ab, den Weg eines professionellen Musikers zu gehen und eine akademische Ausbildung einzuschlagen: „Für Fripp stellte sich die Situation so dar: Wenn man dazu bestimmt ist, Musik zu machen, wird man das sowieso machen, sogar wenn man etwas ‚Vernünftiges’ lernt. Und so ist das dann bei mir auch gekommen.“

Wie aber schafft er es heute als Berufsmusiker? „Ich schaffe das gar nicht“, gesteht Reuter, „Es ist ein ständiges Streben-nach, ein Ausprobieren, eine endlose Suche nach neuen Lösungen und Herausforderungen. Es geschafft zu haben wäre Stillstand. Wirtschaftlich gesehen besteht die Herausforderung und Chance darin, ein „Know-how“ und eine „Art-die-Dinge-zu-tun“ in eine Dienstleistung umzuwandeln und diese über Referenzen zu verkaufen. Meine Projekte sind also immer auch Referenzen für mich als Dienstleister und deswegen mache ich künstlerisch keine Kompromisse und investiere ständig.“ Gerade Letzteres hat in den vergangenen Jahren massiv an Bedeutung gewonnen und führt zu Engagements als klassischer Produzent, der sich um Bereiche wie Projektmanagement und Budgetverwaltung kümmert sowie als psychologischer Coach für private Einzelsitzungen zu berufs- und karriererelevanten Themen.

In die Sprache der Betriebswirtschaft übersetzt bedeutet das im Wesentlichen, das Geld stets dorthin fließt, wo Knappheit besteht und Individuen einzigartige Fähigkeiten anbieten können. Eine Studie [4] legte vor kurzem offen, welche Berufsgruppen in der Musikindustrie finanziell am lukrativsten sind. In der Liste der zwanzig Bestverdienenden waren vor allem Booking-Agenten, Anwälte, Produzenten, Sound-Ingenieure und A&Rs zu finden sowie einige Berufsbezeichnungen, für die man als Normalsterblicher erst das Lexikon zur Hand nehmen muss, um ihren Bedeutungsgehalt zu entschlüsseln. Die einzigen Kreativen in dieser Aufzählung stellten Filmkomponisten, Videospielkomponisten sowie die Orchestermusiker dar, die für die Einspielung der entsprechenden Soundtracks eingesetzt werden. Dahinter freilich steckt eine bestechend einfache Logik. In einer Welt, in der es zunehmend schwieriger wird, die eigene Stimme aus der Masse zu isolieren, werden sich diejenigen Berufe durchsetzen, die sich genau dies zum Ziel gesetzt haben: mittels der Veredelung aufgenommener Musik durch Mastering und Mixing. Mittels einer besseren visuellen Positionierung durch Logo-Entwicklung und ansprechende Cover-Designs. Mittels der Unterstützung bei PR, Marketing, Distribution und komplexen Rechtsfragen. Und vor allem natürlich mittels einer Steuerung in Richtung erfolgreicher Konzertkonzepte, um den lukrativen Live-Markt zu knacken.

Solange breitenwirksame Verwertungsmodelle ausbleiben, wird der größte Teil der Musiker weiterhin Kompromisse eingehen und sich nach alternativen Beschäftigungen umsehen müssen. Das aber ist keine Besonderheit der Zeit, in der wir leben, sondern eine offenbar immanente Eigenheit dieser Berufssparte. Das Ende des Berufsmusikertums steht zumindest noch nicht bevor – wohl aber ein langer Kampf um finanziellen Freiraum. „Durchhalten ist die oberste Priorität“, sagt Reuter dazu und bei ihm klingt es ebenso wie ein Härteste und eine spannende Herausforderung.

Tobias Fischer

[1] thecynicalmusician.com/2010/04/the-paradise-that-should-have-been-revisited

[2] www.informationisbeautiful.net/2010/how-much-do-music-artists-earn-online

[3] markusreuter.bandcamp.com

[4] digitalmusicnews.com/stories/120710gigs

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