Porträt: Vincent Fugère

Geschrieben von Beat
09.01.2012
22:38 Uhr

Vincent Fugère war dabei, als sich die Welt veränderte. Als winzige, aus dem Schlafzimmer geführte Labels den Majors plötzlich den Ton vorgaben. Als kostenlos noch etwas bedeutete. Als es keine Grenzen mehr zu geben und der Traum vom Dasein als Musiker in Erfüllung zu gehen schien. 2009 jedoch beendete Fugère sein Netlabel Camomille von einem Tag auf den anderen und verabschiedete sich von der Musik. Jetzt ist er wieder da – und erneut ist alles anders.

(Bild: www.vincentfugere.com)

Vielleicht, so argumentierte der leicht schrullige aber gelegentlich auf geradezu unheimliche Weise prophetische Komponist und Theoretiker John Cage einmal, haben wir den großen Fluss der Musikgeschichte bereits hinter uns gelassen und sind in ein Delta eingetreten, in dem sich die klare Linie der historischen Entwicklung auflöst und verästelt und alle Stile gleichberechtigt nebeneinander treiben. Genau dieses Stadium scheint jedenfalls derzeit die Netlabel-Szene erreicht zu haben. Während die einen von einer Krise sprechen und statt wöchentlicher Neugründungen ein grassierendes Labelsterben monieren, betrachten es die anderen eher als Triumph, dass die Ideen der Pioniere inzwischen komplett vom Mainstream assimiliert wurden: Es gibt heute kaum noch erfolgreiche Plattenfirmen, die „kostenlos“ nicht in irgendeiner Form für sich entdeckt haben und es entweder als gelegentliches Marketing-Zuckerl oder integrale Komponente ihres Katalogs einsetzen. Mit Qualität und kompositorischem Gehalt hat die Unterscheidung zwischen traditionellem Business und CC-Lizenzen schon lange nichts mehr zu tun, und was „Hauptwerk“ oder „Neben-Releases“ sind, lässt sich ebenso wenig anhand des Preisschildes erkennen. Gleichzeitig aber ist ein eindeutiges Nachlassen des revolutionären Triebes zu verkennen, eine Art stille Resignation bei denen, die sich einstmals stolz am Puls der Zeit bewegten. Flagschiffe der Szene wie thinner oder Stadtgruen haben ihre Kommunikationsrate drastisch heruntergefahren, sind in einen Winterschlaf versunken oder in die private Bedeutungslosigkeit abgeglitten.

Auch Vincent Fugère war einer dieser Pioniere. Sein Netlabel Camomille galt Insidern gar als eine Art Paradebeispiel für zukunftsweisende Plattenfirmen im einundzwanzigsten Jahrhundert: Fugère gab vor allem unbekannten Künstlern eine Chance und handelte schnell. Die Webseite und das Artwork sahen toll aus. Und vor allem: Camomille war produktiver als es ein traditionelles Major-Label je hätte sein können. Allein zwischen 2002 und 2003 wurden auf der Plattform vierundsiebzig Alben, Sampler, EPs und Remixe veröffentlicht, 2007 hatte der Katalog die magische Grenze von einhundert Releases erreicht. Gleichzeitig fungierte das Schwester-Label Apegenine als Bindeglied zur Welt physischer Tonträger, als ewiges Versprechen, dass das Gratis von heute nur eine Brücke zum Traum vom Leben mit und von Musik in der Zukunft bildet. Dieser Traum zerbrach schließlich im April 2009 und äußerte sich zunächst in einem schleichenden Gefühl der Verantwortungslosigkeit. Fugère empfand den ungefilterten Camomille-Output immer mehr als Verrat an Musikern und Publikum, als Eingeständnis einer im Grunde genommen mangelnden Leidenschaft für das, was er da Gigabyte-weise unters Volk brachte. Auch bei Apegenine lief es nicht rund. Ansprechpartner bei Vertrieben verweigerten ihm Auskunft über die Verkaufszahlen, Einkünfte blieben aus. Fugères Kosten stiegen hingegen stetig an, und als er schließlich sogar seine Nahrungsmittelausgaben einschränken musste, um die Maschine am Laufen zu halten, ergriff er die Flucht. Das Label stand kurz vor dem Durchbruch mit dem zweiten Album des portugiesischen Poptronica-Crossovers :papercutz, da hinterließ Fugère eine schlichte Notiz auf seiner Webseite und verschwand in der Versenkung.

Radikaler Bruch

Dass er heute, nach nur einem Jahr, bereits wieder da ist und man sich nicht nur auf eine Fortsetzung der Camomille-Story, sondern auch auf neues Material des Label-Kopfes unter seinem Muhr-Pseudonym freuen darf, ist laut Fugère vor allem der Radikalität des Bruchs geschuldet. „Klar hat das viele sehr wütend gemacht“, gibt er unumwunden zu, „einer der davon Betroffenen hat sogar gedroht, mich zu verprügeln! Aber ich habe nur aus Selbstschutz so gehandelt und bin im Nachhinein sehr froh darüber. Die neue Perspektive, die ich über das letzte Jahr gefunden habe, ist unbezahlbar. Und da ich bereits alle Fehler begangen habe, die man in der Branche machen kann, weiß ich genau, dass es mir gelingen wird, meine eigenen Wertvorstellungen dieses Mal kohärent umzusetzen.“ Ein ganzes Jahr nabelte er sich vollständig von dem ab, was zuvor der Mittelpunkt seiner Welt gewesen war. Seine Geräte – eine zuverlässige alter Fender Stratocaster und ein Roland Fantom X-8 – blieben stumm. Auf seinem Browser wurden die URLs von Netlabels blockiert. Die einstmals rege Korrespondenz mit den von ihm einst vertretenen Künstlern kam fast vollständig zum Erliegen. Stattdessen kaufte sich der hauptberuflich als Designer arbeitende Kanadier einen Plattenspieler und begann im eigenen Wohnzimmer, wie früher Vinyl-LPs aufzulegen. Langsam aber sicher kehrte mit der Rückkehr zu den Wurzeln auch die Leidenschaft wieder.

In dieser Zeit der Besinnung wurde Fugère klar, was ihm so lange schmerzlich gefehlt hatte: „Ich bin in der Tracker-Szene aufgewachsen, und damals war kostenlose Musik noch etwas wirklich Besonderes. Wir begeisterten uns für neue Musik, neue Produktionsmethoden, neue Stile, neue Leute. Und dieses einmalige Bronzezeitalter ließ sich für die meisten von uns einfach nicht mehr übertreffen. Erinnere dich doch einfach nur mal an die frühen Tage mit Kikapu, Ogredung, Tokyo Dawn Records, thinner, Mono, Kahvi! Es war aufregend. Wir alle waren der Meinung, die professionellen Labels könnten uns nicht das Wasser reichen.“ Doch während sich sowohl bei den Labels als auch den Musikern eine Art Sättigung einstellte, nahm zunehmend auch das Interesse des Publikums ab. „Und dieses Interesse“, so Fugère, „ist doch unser Geld, unsere Währung – und unsere Daseinsberechtigung.“

Die Welt beeinflussen

Er stand mit dieser Auffassung nicht alleine da. In seiner Vorausschau auf das Jahr 2010 betonte sein Landsmann Pheek, selbst Kopf des angesehenen und bereits seit Jahren führenden Hybrid-Netlabels Archipel, dass die Branche immer undurchsichtiger werde. Manchmal sehe es beinahe so aus, als könne man mehr Aufmerksamkeit damit erregen, Musik zu verkaufen, als sie zu verschenken. Und während es den Netlabel-Pionieren darum ging, eine Art Gegenmodell zum alles überwuchernden Markt aufzubauen, böte doch gerade der heute die weitaus bessere Möglichkeit, die Welt nach der eigenen Fasson umzugestalten: „Meiner Ansicht nach haben wir doch viel mehr Macht, wenn wir die Sachen kaufen, an die wir glauben“, so Pheek, „Damit schickst Du eine ganz klare Botschaft nach draußen, dass du etwas unterstützt. Mein lokaler Gemüsehändler fing vor Kurzem damit an, Bio-Produkte anzubieten. Wir nahmen dieses Angebot sofort an und kauften, soviel wir nur konnten. Jetzt hat der Laden sogar eine eigene Abteilung für diese Produkte und wir bekommen mehr und bessere Nahrungsmittel. In der Musik ist es nicht anders. Wenn du mehr Musik willst, die dir gefällt, solltest du sie unterstützen!“ Auch Fugère entdeckte zunehmend eine Verflachung der einstmals so kraftvollen Botschaft der frühen Jahre: „Wir alle haben doch irgendwann einfach vergessen, dass wir da etwas geschenkt bekommen. Es ging doch irgendwann gar nicht mehr um „kostenlose Musik“. Es war sehr unpersönlich. Ich beschäftige mich auch nicht mit der aktuellen Copyright-Debatte. Ich verwende zwar regelmäßig CC-Lizenzen, aber ich glaube nicht, dass sie sich für alles eignen. Manchmal finde ich Creative Commons als Organisation genauso beängstigend wie die amerikanische Branchenorganisation RIAA. Beide sind so umtriebig-aggressiv bezüglich ihrer Positionen. Manchmal möchte ich als Künstler, genau wie viele andere, auch einmal sagen können: Dies gehört mir!“

Und so bewegen sich Fugère und Camomille zwar augenscheinlich wieder in dem altgewohnten Spannungsfeld zwischen Kommerz und Kreativität, doch haben sie es sich diesmal unter neuen Vorzeichen erschlossen. Der viel beachtete Haiti-Sampler, mit dem sich das Label zurückmeldete, war beispielsweise alles andere als ein weiteres schnell zusammengeschustertes Machwerk, sondern eine hochqualitative Compilation, auf der sich die Crème de la Crème zu beiden Seiten der Lizenz-Barriere, von Musikern wie Emanuelle Errante und Ilkae bis hin zu logreybeam und Ian Hawgood, die Klinke in die Hand gaben. Ebenso selektiv möchte Fugère auch in Zukunft vorgehen und seine Veröffentlichungen auf die Alben beschränken, welche bei ihm zuhause auf Dauerrotation laufen würden. Vor allem aber meldet er sich höchstpersönlich mit „A Collection of Thoughts and Reveries“ zurück, einer Zehn-Track-Best-Of der letzten Jahre, einschließlich des exklusiven Bonustracks „We have Mountains to Climb“. Als Relaunch der eigenen Karriere bietet das Werk augenscheinlich nur wenig Neues, setzt aber das bereits Bekannte zu einem frischen Sinngehalt zusammen. Und während diese zarten, atmosphärischen Ambient-Tracks und verstörenden Experimente auch weiterhin als kostenloser Download zur Verfügung stehen, kann man als mündiger Konsument alternativ dazu beitragen, die Zukunft dieser traumhaften Gebilde zu sichern, indem man sich eine Kopie der gewohnt wunderbar gestalteten CD-R erwirbt.

Es wäre allein schon deswegen naiv zu erwarten, dass Camomille jemals an die frühen Glanzzeiten wird anknüpfen können, weil sich die Welt in den letzten drei Jahren entscheidend geändert hat: „Die eigene Webseite wird immer unwichtiger“, so Fugère, „die Leute besorgen sich ihre Informationen und Musik doch vielmehr von Facebook, Twitter und Blogs. Das macht alles viel einfacher. Die Netlabels von heute, das sind die engagierten Blogger, die sich die Zeit nehmen, anderen zu zeigen, was es da draußen alles gibt.“ Und darin sieht er auch gar nichts Anrüchiges, sondern vielmehr einen positiven Trend: „So sollte es doch sein: dass Musik wieder ein Teil von uns ist, dass die Leute darüber reden. Das erinnert mich daran, wie es war, früher als kleiner Junge Radio zu hören.“ Zusammen mit unzähligen anderen wird auch diese Erinnerung, eingekapselt als Flaschenpost aus Klang, weit weggespült vom Fluss der Musik, hinaus ins Delta der Musikgeschichte und von dort in die unendliche Weite des Ozeans.

von Tobias Fischer

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