Porträt: Front Line Assembly

Geschrieben von Beat
09.01.2012
23:08 Uhr

Auf Außenstehende mag das neue FLA-Album wie eine schwere Geburt gewirkt haben: Zunächst sah sich der einflussreiche Rhy Fulber außerstande, an „Improvised. Electronic. Device“ mitzuwirken. Dann arbeiteten zwei Engineers gleichzeitig daran. Schließlich zogen sich die Aufnahmesessions drei Jahre lang hin. In Wahrheit aber überließen die kanadischen Industrial-Pioniere auch diesmal nichts dem Zufall – und haben eines der beeindruckendsten Statements ihrer Karriere geschaffen.

(Bild: Troy James Sobotka)

Hart ist es, das neue Album von Front Line Assembly. Sehr hart sogar. Gleichzeitig spiegeln sich darin alle Experimente, Kurswechsel und Einflüsse, denen die Band im Laufe ihrer inzwischen fünfundzwanzig Jahre langen Karriere nachgegangen ist – und enthält mit dem von Tribal-Beats und melodischen Vocodern getragenen „Shifting Through the Lense“ einen ihrer eingängigsten und mitreißendsten Tracks überhaupt. Wer über „Electronic. Improvised. Device“ spricht, der spricht deswegen automatisch über die Geschichte der Band – und über die der elektronischen Musik insgesamt.

Beat / Wir leben in einer schnelllebigen Zeit. Ihr aber habt gerade euren langsamsten Produktionsprozess abgeschlossen …

Bill Leeb / Nach so vielen FLA-Alben war es uns wichtig, diesmal unsere Herangehensweise grundlegend zu verändern. Unter anderem auch deshalb, weil wir ein neues Line-Up haben, dessen vier Schlüsselmitglieder durch intensives Touren sehr eng miteinander verbunden sind. Es war an der Zeit, ein Album aufzunehmen, bei dem sich jeder gleichmäßig einbringt. Man könnte sagen, dass wir in diesem Moment unserer Karriere eher Musik machen, damit wir selbst Spaß daran haben, als um die Massen zu bedienen.

Beat / 3D von Massive Attack hat einmal betont, dass es im Studio sehr schwer sein kann, eine elektronische Produktion zu Ende zu bringen – einfach weil die Möglichkeiten unendlich sind. War das bei IED ebenfalls ein Problem?

Bill Leeb / Da trifft er ganz genau den Kern der Sache. Es ist im Übrigen auch egal, ob du elektronische Musik machst oder einfach nur einen Song schreibst. In dem Augenblick, in dem du anfängst, an der Musik herumzuschrauben oder sie zu mixen und sogar nachdem du das Mastern abgeschlossen hast, wirst du immer das Gefühl haben, du hättest noch etwas hinzufügen können. Es ist, als ob du an einem großen Gemälde arbeitest. Du kannst dabei immer neue Farbe hinzufügen. Aber manchmal musst du einen Schritt zurücknehmen und dir das ganze Bild ansehen. Genau das treibt dich aber auch an, den perfekten Song zu schreiben, bei dem dir alles gelingt, was du dir jemals vorgenommen hast. Dieses Ziel zu erreichen ist natürlich so gut wie unmöglich – es ist eine ständige Herausforderung.

Einzigartige Charaktere

Beat / In wieweit haben die unterschiedlichen Zusammensetzungen eures Line-Ups euch diesem Ziel näher gebracht?

Bill Leeb / Über die Jahre hat wirklich jedes Mitglied seinen einzigartigen Charakter und seine ganz speziellen Fähigkeiten eingebracht. Man muss ja auch bedenken, dass all diese Individuen gleichzeitig nebenbei ihr eigenes Ding durchziehen, sich als Künstler entwickeln und im Laufe der Zeit ändern. Immer wieder aber kreuzen sich unsere Wege, und das gibt uns allen das Gefühl, das es da eine gemeinsame Evolution gibt. Sogar wenn manche Leute zwei Jahre verschwinden, bringen sie anschließend neue Sounds und Energie mit. Unsere offene Personalpolitik bei FLA sorgt immer wieder für frischen Wind. Und genau deswegen hat die Band auch nie aufgehört, sich nach vorne zu bewegen.

Beat / Was genau waren dieser neue Sound und diese neue Energie, die euch bei IED vorschwebte?

Bill Leeb / Wir wollten die besten Elemente, die FLA über die Jahre entwickelt hat, einbringen und vor allem die Betonung zunächst auf das Songwriting legen, statt eine undurchdringbare Wand aus Lärm zu erschaffen. Das kann man später schließlich immer noch tun. Außerdem war es uns wichtig, dass man die Songs auch live einem Publikum vorstellen kann – wir sind schließlich keine DJs.

Beat / Einerseits führt das immer wieder zu Stellen, an denen ihr auf dem Album wie eine „echte Band“ klingt. Andererseits ergeben sich gelegentlich auch Vergleiche mit einer gut geölten Maschine. Welche der beiden Pole ist euch dabei am wichtigsten?

Bill Leeb / Ironischerweise war eine der ersten Motivationen für elektronische Musik der Wunsch, auf eine Band verzichten zu können. Heute sind wir an einem Punkt angelangt, an dem viele Künstler neue Software nutzen, um natürlicher und mehr wie eine Live-Band zu klingen. Wir haben immer versucht, zwischen diesen beiden Polen zu pendeln und uns voll und ganz auf den jeweiligen Track zu konzentrieren, ganz gleich wie technisch oder organisch wir ihn später auch ausgestalten mögen. Im Endeffekt zählt wirklich nur der Song.

Beat / Keine leichte Aufgabe, wenn man mit so vielen verschiedenen Einflüssen aus Metal, Industrial, Pop und Elektro arbeitet …

Bill Leeb / Es hilft, dass wir inzwischen seit fünfundzwanzig Jahren Musik machen. Das hat sehr dazu beigetragen, dass wir heute imstande sind, all diese verschiedenen Bereiche miteinander in Einklang zu bringen. Wir haben ein volles Jahr damit verbracht, das Album technisch auf die Beine zu stellen. Danach haben wir es eine Weile zur Seite gelegt und sind erst später wieder zu ihm zurückgekehrt, um erneut daran zu arbeiten. Die Scheibe ist unsere leidenschaftlichste Reise, wir haben wirklich unsere ganze Seele hineingelegt. Außerdem haben wir zum ersten Mal mit zwei Engineers gleichzeitig am Mix kollaboriert. Ken Marshall gebührt dabei eine Menge Respekt. Er hat das halbe Album abgemischt und ein ganz neues Flair eingebracht. Aber auch Greg, der sich um die andere Hälfte gekümmert hat, stellte sein ganzes Talent zur Schau.

Zweischneidiges Schwert

Beat / Wie seht ihr generell den Zusammenhang zwischen technologischem Fortschritt und Musikalität bei FLA?

Bill Leeb / Technologie ist ein zweischneidiges Schwert. Im Endeffekt kommt es doch ausschließlich auf das Individuum an und darauf, wie es seine kreative Menschlichkeit nutzt, um sich mittels digitaler und analoger Maschinen auszudrücken. Wenn der Funke und die Inspiration fehlen, wird das Ergebnis immer nur durchschnittlich klingen, ganz egal wie viele Programme du verwendest. Für mich sind einige der besten elektronischen Kompositionen sehr einfach und bestehen nur aus ein oder zwei Tönen. Das Einzige was zählt ist, dass es da einen Künstler gibt, der eine Entscheidung darüber trifft, wann etwas genug oder zu viel ist.

Beat / Wie wichtig sind für euch noch die großen Wände aus Analog-Synthesizern?

Bill Leeb / Wir leben in einer Zeit, in der Leute häufig gleichzeitig analoge und virtuelle Synths benutzen. Wenn man viel reist und Zeit und Geld ein Thema sind, bieten sich kleinere Setups und Laptops einfach aus Gewichts- und Kostengründen an. Für uns gilt: In einer perfekten Welt würden wir natürlich gerne beides verwenden. Wenn man dann eine coole Idee auf dem Computer entwickelt, kann man sie mit einem analogen Moog doppeln, um ihr in Sachen Sounddesign das gewisse Etwas zu verleihen. Wir verwenden technisch alles, was uns zur Verfügung steht, es gibt heutzutage kein richtig oder falsch mehr. Andererseits wird es immer schwieriger, Originale zu finden, und deswegen bleibt vielen gar nichts anderes übrig, als virtuelles Equipment zu nutzen. Ich jedenfalls hoffe, dass es technologische Durchbrüche ermöglichen werden, diese Vintage-Geräte immer besser zu emulieren.

Beat / Wie oft erneuert ihr euer Equipment?

Bill Leeb / Wir haben über die letzten zwei Jahrzehnte so viele Geräte gekauft, dass ich einen ganzen Lagerraum voller Maschinen habe, die ich seit Jahren nicht mehr verwende. Deswegen besteht derzeit wirklich keine Notwendigkeit, uns etwas Neues zu besorgen – mal abgesehen von kreativen Songideen.

Für das neue Album waren die wichtigsten Werkzeuge Logic Pro und Pro Tools zum Abmischen. Wir haben auch eine Menge Outbord-Equipment für die Effekte verwendet und, wie gerade angedeutet, auch einen Haufen analoger Geräte. Über diese Schätzchen wollen wir aber nicht zu viel verraten, das sind unsere Geheimwaffen!

Beat / Wie schafft ihr es, mit diesen Instrumenten auf der Bühne euren Sound so unmittelbar wie möglich zu gestalten?

Bill Leeb / Wenn du eines unserer Konzerte besuchst, wird dir auffallen, dass wir Live-Gitarren verwenden, Live-Schlagzeug, Live-Keyboard, Live-Samples und live gesungene Vocals. Klar, Sechzehntelnoten übernimmt der Sequencer. Aber zusammen mit Glen Reely formen wir unseren gesamten Sound in Echtzeit. Es ist für uns essenziell, dass wir bei einem Gig auch wirklich live klingen und unsere musikalischen Fähigkeiten transparent werden.

Equipment (Auszug)

Mini Moog

Multi Moog

Micro Moog

Pro One

MS-20

Arp 2600

Matrix 12

Oscar

von Tobias Fischer

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