Netaudio: The Oracle Hysterical

Geschrieben von Beat
02.11.2011
19:32 Uhr

Trotz einiger kommerziell erfolgreicher Crossover-Hits sind Hip-Hop und Klassik noch immer zwei hermetisch voneinander getrennte Welten. Die beiden zeitgenössischen Komponisten Brad Balliett und Elliot Cole haben sich zu einem Produzenten-Duo zusammengeschlossen, um diesen Missstand zu ändern. Als „The Oracle Hysterical“ liefern sie komplexe, matschig groovende Beats und haben nun mit „The Rake’s Progress“ eine ganze Oper neu vertont.

(Bild: www.myspace.com/oraclehysterical)

Beat sprach mit Brad Balliett und Elliot Cole über ihre Beweggründe, Strawinskys Oper auszuwählen, Berührungsängste zwischen Klassik und Hip-Hop sowie eine scheinbar bis in die Bronzezeit reichende Storytelling-Tradition.

Beat / Habt ihr euch in erster Linie wegen der Musik oder eher der Geschichte für eine Neubearbeitung von „The Rake’s Progress“ entschieden?

Brad / Beides war uns gleich wichtig. Genauer gesagt sind Musik und Geschichte in Strawinskys Oper so eng miteinander verbunden, dass es eine fast schon selbstverständliche Wahl war. Die Hauptfigur, Tom Rakewell, hat scheinbar eine Menge zu erzählen, aber Strawinsky bietet wenig Informationen darüber, wie sein Innenleben aussieht. So gesehen ist unser Projekt eine Art Ergänzung, in der die Sprechgeschwindigkeit schneller sein muss als bei einer gesungenen Oper, weil sie sich nicht an das Tempo der Handlung anlehnt, sondern an das der Gedanken. Die Story ist zeitlos: ein typisches Faust-Drama über einen fehlgeschlagenen Pakt mit dem Teufel, unvorstellbaren Reichtum in einer Großstadt sowie dem letztendlichen Verlust der großen Liebe und geistigen Gesundheit.

Klassik vs. Hip-Hop

Beat / Warum gerade Hip-Hop?

Elliot / Zum einen, weil uns diese Musik gerade beschäftigt, zum anderen aus Neugierde. Vor ein paar Jahren haben wir eine EP produziert, bei der wir Samples unserer Lieblingsstücke verwendet haben – Sachen von Dillon, Birtwistle, Bach, Strawinsky, Ferneyhough. Wir wollten in dieser Richtung weiter machen und uns verbessern. Nicht nur, weil es eine tolle Art ist, eine Geschichte zu erzählen, sondern auch, weil man damit noch immer ein Tabu berührt. Niemand hält es ernsthaft für möglich, dass so eine Kombination auf eine glaubwürdige Art funktionieren kann. Damit hat das Projekt das Potenzial, sehr viele Menschen zu überraschen.

Beat / Seht ihr denn gar keine Verbindungen zwischen Klassik und Hip-Hop?

Elliot / DJs haben sich schon lange bei der Klassik bedient, um ihren Beats diesen apokalyptischen Klang zu verleihen. Und die mediale Präsenz von Hip-Hop mag durchaus für die post-minimalistische Konzertmusik ein Einfluss gewesen sein. Die Herausforderung besteht aber gerade darin, zwischen diesen beiden Extremen ambitionierte, persönliche und ehrliche Werke zu schaffen.

Brad / Jemand wie der haitianische Komponist, Geiger und Bandleader Daniel Bernard Roumain ist ganz eindeutig eine Ausnahme. Noch vor kurzem bezeichnete ein sehr bekannter deutscher Komponist elektronische Beats als „magisch, aber keine Kunst“.

Beat / Es ging euch ohnehin weniger um Stilexperimente, sondern vor allem um das Erzählen einer Geschichte …

Elliot / Ganz genau: Wir wollen eine Geschichte erzählen. Und diese Geschichte ist wichtiger als der Stil, in dem wir sie erzählen. Wenn du genau darüber nachdenkst, ist das auch gar nicht so ungewöhnlich. „Storytelling“ in Reimen ist eine ursprüngliche Kunst. Reisende Dichter haben während der Bronzezeit in Griechenland mit ihren Laufstöcken Beats geschlagen und dazu quasi Geschichten über den Trojanischen Krieg „gerappt“.

Samples und Strawinsky

Beat / Wie ist es euch gelungen, Kammermusik-Samples in das rhythmische Gerüst eines Hip-Hop-Tracks zu pressen?

Elliot / Wir haben eine Menge bei der Produktion unserer letzten EP gelernt. Damals haben wir Ausschnitte aus einem Ferneyhough-Streichquartett zerhackt und die lautesten, deutlichsten Betonungen auf die Downbeats gelegt. Alles was dazwischen lag, durfte sich chaotisch entwickeln. Das Ergebnis war der groovigste, matschigste Beat, den wir je gehört hatten, Tausende aufeinandergestapelte Swing-Variationen. Es war eine Offenbarung: Du musst gar nicht bis hin zum kleinsten hörbaren Element quantisieren, du musst auch nicht jeden Takt in eine feste Schablone pressen – es gibt eine Grauzone zwischen Rhythmik und Arhythmik.

Beat / Warum habt ihr eigentlich keine Strawinsky-Samples für das Stück verwendet?

Elliot / Wir haben ganz kurz darüber nachgedacht, das Stück mit Strawinskys Fanfare einzuleiten. Aber das schien uns dann zu offensichtlich, zu einfach. Es ist ohne den direkten Bezug interessanter. Außerdem ist es ja mehr die Geschichte, die unser Projekt inspiriert hat – Eine Story im Übrigen, die er und Auden [der amerikanische Dichter Wystan Hugh Auden lieferte das Libretto, Red.] auch nicht erfunden haben. Sie gründeten ihre Oper auf einem Bilderzyklus von William Hogarth, der wiederum wahrscheinlich seine Wurzeln in mittelalterlichen Moraltheaterstücken hatte. Aber dies ist kein Remix-Projekt. Wir möchten Strawinsky nicht „updaten“ oder modernisieren. Wir verweisen auf die Tradition, aber unser Stück steht auf eigenen Füßen.

Beat / Wie haben sich die neuen Texte aus dem ursprünglichen Libretto entwickelt?

Brad / Es gibt eine Menge Bezüge zu dem Auden-Text, einschließlich einiger direkter Zitate. Das sind sozusagen die einzigen „Samples“ aus der Strawinsky-Oper. Der größte Teil des Textes resultiert aus einer Analyse von Tom Rakewells Verhalten, vermischt mit einer Menge Spekulationen und einfacher Neugierde über seine Beweggründe. Eine Menge Leute, mich eingeschlossen, werden sich in seinen Gefühlen wiedererkennen. Er erfährt im Laufe der Geschichte Schuld, Scham, Reue und Wut. Außerdem ist er ziemlich faul.

Beat / Wird der Einfluss von Strawinsky generell unterschätzt?

Brad / Strawinsky hat nichts so Radikales erfunden wie Schönberg. Trotzdem hat er mindestens ebenso viele neue Türen in der Musik geöffnet. Ich denke, man kann seinen Einfluss an vielen Stellen erkennen. Ob es nun offen anerkannt wird oder nicht: Strawinsky war einer der Ersten, die die Musik einer früheren Generation „remixt“ haben, um sie sich ästhetisch anzueignen. Dabei hat er ein Stück im Grunde genommen aber intakt gehalten, was selbstverständlich eine Grundidee des Hip-Hops ist.

Rhythmus und Evolution

Beat / Strawinsky ist – ebenso wie viele heutige Hip-Hop-Produzenten – für seinen revolutionären Ansatz in Bezug auf Rhythmus berühmt geworden. Schließt sich hier der Kreis mit eurer Version von „The Rake’s Progress“?

Elliot / In puncto Rhythmus ist Strawinsky dem heutigen Hip-Hop immer noch um einiges voraus. Aber seine Art, Musik zu entwickeln ähnelt sehr dem heutigen Verständnis von Sampling und Loops. Picasso hat zur selben Zeit in der visuellen Kunst die Collage erfunden. War nicht sogar die Hauptkritik von Boulez an ihm, dass seine gesamte Musik im Grunde genommen nur Pastiche und Wiederholung war, anstelle von echter Entwicklung?

Brad / Stimmt. Aber Boulez hat Strawinsky gleichzeitig geliebt und ganz eindeutig eine Menge von ihm gelernt. Es ist also nur logisch, dass Boulez letztendlich 1997 ins Studio ging, um sein eigenes Stück „Anthemes“ zu remixen. Das nenne ich mal evolutionäre Annäherung!

Beat / Hat eure Arbeit an „The Rake’s Progress“ unmittelbaren Einfluss auf eure eigene Kompositionstätigkeit ausgeübt?

Brad / Ich habe bemerkt, dass ich bittere Musik für die Oboe und das Fagott schreibe. Ich glaube, ein Teil von mir möchte sich wieder einer üppigeren, komplexeren Musik widmen, nachdem ich mit dem Hip-Hop-Projekt doch einem relativ regelmäßigen Format nachgegangen bin. Trotzdem: Eines Tages werde ich wahrscheinlich mein Fagott elektrifizieren und einen Beat darunter legen.

Elliot / Ich kann ganz klar einen Einfluss erkennen. Ich arbeite gerade an einer Suite für durch Multitracking geschichtete Geigen, das eine Menge dieser Techniken einsetzt. Normalerweise schreibt man ja zunächst ein Stück und nimmt es dann auf. Für diese Komposition aber habe ich das Material geschrieben, es aufgenommen, remixt und dann eine weitere Schicht obendrauf gepackt. Darauf wäre ich allerdings nie gekommen, wenn ich die Musik nur auf dem Papier verfasst hätte. Es ist manchmal etwas ernüchternd, wie sehr unsere Arbeitsmittel unser Schaffen beeinflussen.

Beat / Denkt ihr, dass ihr etwas geschaffen habt, was auch Strawinsky selbst gefallen hätte?

Brad / Wenn Strawinsky noch leben würde, wäre ihm Hip-Hop nicht fremd und er hätte eine Möglichkeit gefunden, diesen Stil in seine alles verzehrende musikalische Persönlichkeit zu absorbieren. Und ich denke, es hätte ihm einen Kick gegeben, Tom Rakewell rappen zu hören.

Equipment:

Apple MacBook Pro

Apple Logic Studio

Ableton Live 7

Max/MSP 5

Presonus Firebox

Shure SM57 Mikrofon

Bose-Lautsprecher

Bose-Kopfhörer

von Tobias Fischer

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