Quelle: https://www.beat.de/news/megastars-tod-traummaschine-10074085.html

Autor: Tobias Fischer

Datum: 27.07.18 - 11:50 Uhr

Megastars - Der Tod und die Traummaschine

Der Selbstmord von Avicii hat die Szene wachgerüttelt. Viele DJs erkennen sich in dem Schicksal des jungen Schweden wieder, in seiner Erschöpfung und seine Einbindung in ein ausbeuterisches System. Viele sehnen sich nach einem Neuanfang – doch wie realistisch ist dieser wirklich?

EDM mag erst wenige Jahre jung sein. In diesem kurzen Zeitraum aber erlebte das Genre bereits geplatzte Hype-Blasen und epische Skandale, von der Diskussion um Fake-DJing und Ghost-Producer bis hin zum finanziellen Kollaps des SFX-Imperiums. Nach dem Selbstmord von Tim Bergling alias Avicii hat es nun auch noch seinen tragischen Helden. Mit Bertling hat die Szene ihren wohl größten Star verloren, einen Künstler, dem sogar Außenstehende Respekt zollten und der dennoch die Galionsfigur des kommerziellen Mainstreams war. Die Ausmaße seines Erfolgs wurden niemals klarer als in den Stunden nach seinem Abschied, als sich angesehene Zeitungen wie die FAZ, Süddeutsche und Zeit, deren Leserschaft mit der EDM-Kundschaft eine leidlich kleine Schnittmenge bilden dürfte, mit theatralischen Nachrufen zu überbieten versuchten. Seine Melodien hätten „Ewigkeitswert“ und ihm gebühre in der Musikgeschichte ein Platz gleich neben ABBA, befand der Stern. Für die Welt war er gar „eine Art Bach der Elektro-Musik.“ Im niederländischen Utrecht spielten die Kirchenglocken einen Tag lang seine Hits – so manchem Staatschef sind geringere Ehren zuteilgeworden.

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Gespenstische Dramaturgie

In einer geradezu gespenstischen Dramaturgie folgte Bergling's Tod nur wenige Monate auf die Veröffentlichung der Dokumentation „True Stories“, die seinen überschnellen Aufstieg vom Schlafzimmer-Produzenten zum Megastar und Millionär verfolgt. So farbenfroh und euphorisch die Musik des Schweden war, so finster war der Blickwinkel von „True Stories“. Gegen Kollegen wie Hardwell, die in ihren filmischen Biografien einen fast schon familiären Ton angeschlagen hatten, mutete dieses rabenschwarze Drama wie ein Horror-Thriller an. Das Schlimmste daran: Nichts davon wirkt wie ein Kunstgriff, der Spannungsbogen erscheint keineswegs konstruiert, die Realität grausamer als eine Fiktion. Von Anfang an sind Triumph und Untergang untrennbar miteinander verbunden, kein Detail des Leidenswegs wird ausgelassen: hilflose Ärzte, die Bertling's Schmerzen nicht lindern können. Alkoholprobleme, Panikattacken und existenzielle Krisen, komplette Tage ohne Nahrungsaufnahme. In der Mitte der Tragödie aber steht ein Management-Team, das sogar am Rande des Abgrunds den unvermeidlichen Abschied von der Bühne so lange wie möglich herauszuzögern versucht. Die Rohheit von „True Stories“ war teilweise so schwer zu ertragen, dass sich Netflix offenbar genötigt sah, den Film nach dem Tod des Künstlers kurzzeitig aus dem Angebot zu nehmen.

Tatsächlich fühlt man sich ein wenig wie ein Voyeur, wenn man die sich wie ein Shakespear'sches Drama entfaltende Handlung heute ansieht, zugleich angeekelt und fasziniert. Denn wohl kein einziger Film hat die gnadenlose Maschinerie der aktuellen Musikindustrie besser eingefangen als dieser. Das vor der Veröffentlichung des Durchbruch-Hits „Levels“ aufgenommene Zitat von Avicii's Manager Ash Pournouri, der Medienrummel werde irgendwann so groß sein, dass Bertling bei der Promotion „tot umfallen werde“ ist inzwischen längst in die Analen eingegangen. Sehr effektiv auch, wie Regisseur Levan Tsikurishvili mit subversiven Schnitten Aussagen des Managers entlarvt, er wolle sich ein wenig wie eine Vaterfigur um seinen Schützling kümmern, um ihm dabei zu helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dabei wirkt Pournouri, der vor Avicii nahezu keine ernst zu nehmende Management-Erfahrung hatte, gar nicht brutal, sondern eher wie ein großes Kind, das die Konsequenzen des eigenen Handelns noch nicht ganz erfassen kann. Weitaus offener baut der australische Tour-Manager Robb Harker Druck auf Bertling auf, als der mit einer akuten Bauchspeicheldrüsenentzündung in der Notaufnahme liegt. Statt ihm mit allen Mitteln von einer Fortsetzung der Tour abzuraten, öffnet Harker mit subtiler Psychotaktik das Tor dafür, dass die Show weitergeht. Auf dem Weg zur nächsten Show kann der Musiker dann, im schmerzhaften Delirium, kaum noch die Augen offenhalten, da schlägt Harker im bereits vor, doch noch schnell ein Telefon-Interview zu geben – um der Welt zu zeigen, dass er wieder „auf Kurs“ sei.

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Das Team versagt

In seinem Kommentar zum Tod Avicii's hat der „Create Digital Music“-Gründer Peter Kirn das Versagen dieses Teams, das Tim Bergling eigentlich hätte schützen sollen, in den Mittelpunkt seiner Kritik gerückt. Bezug nehmend auf Szenen wie die obengenannte schreibt er: „Es geht gar nicht so sehr darum, dass hier jemand irgendwann zu viel getrunken hat. Vielmehr wird in Passagen wie dieser klar, dass Avicii und sein Team die Fassade aufrecht erhalten und weiter arbeiten, obwohl eine vollständige medizinische Versorgung und Erholung angesagt gewesen wäre. [...] In der Live-Musik-Szene ist so viel Geld im Umlauf, dass viele inzwischen mehr an den sich daraus ergebenden finanziellen Möglichkeiten interessiert sind als an der Musik oder den Menschen, die diese Musik machen. Das muss auch gar nicht unbedingt etwas Schlechtes sein, solange du dir stets der Tatsache bewusst bist, dass es Situationen geben kann, in denen du dich zwischen den beiden entscheiden musst. Du kannst auf einer Tour Taktiken wählen, mit denen du sehr viel Geld verdienst, bei denen aber das Wohl des Künstlers vernachlässigt wird.“

In seinem posthumen Kommentar für das Online-Musikmagazin Resident Advisor hat Will Lynch ähnliche Aspekte in den Mittelpunkt gerückt. Dass so viele DJs, sogar aus dem Underground, Mitgefühl für Bertling empfunden hätten, läge sicherlich auch daran, dass jedem klar sei: Es hätte auch mich treffen können. Nicht Einzelne dürften hier angeklagt werden, so Lynch. Problematisch sei vielmehr das aktuelle Musik-System als Ganzes, in dem DJs immer wieder dazu ermutigt werden, über ihre Grenzen hinaus zu gehen. Doch übt er auch Kritik an den Kreativen. Letzten Endes nämlich seien diese selbst für ihre eigene Gesundheit verantwortlich und entschieden sich immer wieder aus freien Dingen gegen sie. Peter Kirn, dessen beruflicher Schwerpunkt in der Equipment-Branche liegt, bringt das Dilemma trefflich auf den Punkt: „Es wäre einfach für uns, der Musikindustrie die Schuld in die Schuhe zu schieben. Aber als Vertreter der Musiktechnologie und der Musikinstrumente ernähren wir uns von den gleichen wirtschaftlichen Erwägungen und Sehnsüchten: Wir verkaufen eine Menge unserer Geräte an genau die Leute, die davon träumen, Avicii zu sein. Und auch wir selbst haben unsere Dämonen und sehen uns ständig der Gefahr eines Burnouts ausgeliefert.“ Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, dass sich online einige Videos finden, in denen Avicii Weisheiten zum Thema Erfolg zum Besten gibt. Sein erster Ratschlag: „Du musst hart arbeiten, um etwas zu erreichen.“

So gesehen ist es eher verwunderlich, dass nicht schon weitaus mehr Fälle wie der von Bertling zu beklagen waren. Denn die Dekadenz von EDM zu ihrer Hochphase war wie eine Flutwelle, die in wenigen Sommern eine ganze Generation von DJs und Produzenten über jegliches gesunde Maß hinaus reich und berühmt machte. Es ist keineswegs abwegig zu behaupten, dass Bertling's Ende genau dann begann, als er seinen Zenit erreichte und EDM als Massenphänomen weltweit in Erscheinung trat. Die Gagen, die gezahlt wurden, waren größtenteils spekulativ, das Gründen eines Festivals ein Roulette-Spiel. Etwas anderes als die ganz großen Namen konnte sich ein Veranstalter angesichts der harten Konkurrenz nicht leisten und unter den vielen aufstrebenden Jungstars war Avicii der größte Name überhaupt. Zeit zum Verschnaufen gab es in diesen Jahren nicht: Schon sein Konzertkalender hätte so manchen an den Rand des Abgrunds gebracht. Während sich viele seiner Kollegen ihre Tracks von anderen schreiben lassen mussten, reifte Bertling aber außerdem noch zu einem angesehenen Produzenten heran, der nach jedem absolvierten Gig noch viele Stunden hinter dem Rechner verbringen musste. In gewisser Weise war er zu gut. Denn nur wenige waren wie er in der Lage, im Studio mit ihrem Laptop ähnlich zu jammen wie die Mitglieder einer tight eingespielten Rock- oder Jazzformation. Songs wie „Wake Me Up“ waren keine am Rechner zusammengezimmerten Stilexperimente. Sie waren das Ergebnis eines Produktionsprozesses, der in dieser Form schon bald das Modell der Zukunft bilden dürfte. Der Erfolg sprach sich schon rasch herum. Jeder wollte ein Stückchen des Kuchens, und so wurde ein junger schwedischer Produzent plötzlich zum Sparring-Partner von erfahrenen Musikern wie Nile Rodgers, Madonna und Mike Etzinger von Incubus, zum Hit-Lieferanten für Bands wie Coldplay.

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Verschärfte Probleme

Ganz gewiss ist die heutige Musikindustrie nicht schlimmer oder bösartiger als sie es in den 70ern und 80ern war. Sie hat aber einige der bereits bestehenden Probleme noch zusätzlich verschärft. Zum einen hat sich das Tempo, in dem sich ein Künstler vom Talent zum Superstar aufschwingen kann, noch einmal erheblich beschleunigt. Shows wie die von Avicii, Hardwell und Co erfordern nahezu keine technischen Besonderheiten, der organisatorische Wasserkopf ist auf ein absolutes Minimum zusammengeschrumpft – laut Pournouri bestand das Kern-Team seiner Management-Firma At Night Management sogar zu ihren Spitzenzeiten aus gerade einmal zehn festen Mitarbeitern. In den 70ern und 80ern waren den gigantischen Shows der Rolling Stones oder der „Wall“ von Pink Floyd alleine schon aufgrund des logistischen Aufwands enge Grenzen gesetzt. Heute hingegen stöpseln DJs nur noch ihren Laptop ein und sind startklar. Dass ihre streng getakteten Sets bei einem Festival nicht mehr so frei und improvisiert daherkommen wie noch in den Anfangsjahren des Techno – ein offenes Geheimnis, das Bergling einer GQ-Reporterin allzu freimütig offenbarte – ist dabei fast schon eine notwendige Konsequenz. Viele haben es für blanken Hohn gehalten, dass Avicii, der in seinen Sets offenbar wenig mehr als eine dezente Feinabstimmung einer nahezu vollständig durchgeplanten Playlist vornahm, von Millionen Fans für den besten DJ der Welt gehalten wurde. Innerhalb der Logik des EDM-Systems aber, in der genau dieses uhrwerkhafte Funktionieren und die perfekte Wiederholbarkeit einer Performance das Ideal darstellen, war er das vielleicht tatsächlich.

Zu dieser unvorstellbaren Reduzierung des technischen Aufwands gesellt sich eine Globalisierung, Professionalisierung und zunehmende Massentauglichkeit von Dance-Musik hinzu, die dazu führt, dass in der heißen Phase der Saison nahezu jeden Tag irgendwo auf der Welt eine riesige Party steigt. Für alle, die bereit sind, den größten Teil ihres Lebens im Flieger zu verbringen, bieten sich dabei ungeahnte finanzielle Möglichkeiten. Wer will sich da schon mit eventuellen negativen Konsequenzen und Gefahren auseinandersetzen? Es stimmt schon: Bertling's Selbstmord ist ein Schicksal unserer Zeit. Aber es hätte zu jedem Zeitpunkt auch anders ausfallen können. In letzter Konsequenz bleibt ein Selbstmord immer unerklärbar und genau das macht die Geschichte von Avicii so bedrückend. Denn solange die mächtigen der Szene sie als tragischen Einzelfall werten, statt als dringende Aufforderung zu einschneidenden Veränderungen, wird diese als Traummaschine getarnte Tortur einfach weitergehen.

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