Labelporträt: Erased Tapes

Geschrieben von Beat
24.09.2011
08:51 Uhr

Ursprünglich zog Robert Raths nach London, um Architektur zu studieren. Doch seine Leidenschaft für Musik erwies sich als stärker. „Erased Tapes“ war zunächst nicht mehr als ein Visitenkartenname für seine unermüdlichen Bemühungen, der Welt viel versprechende junge Künstler nahe zu bringen. Doch schon bald wurde mehr daraus – viel mehr sogar, denn heute ist Raths Firma ein ausgewachsenes Label, dessen Fühler sich über die ganze Welt erstrecken. Von Folk und Post-Rock über Klassik-Elektronik-Crossover bis hin zum Techno reicht das musikalische Spektrum. Neues zu wagen gilt hier als Tugend.

(Bild: www.beat.de)

Ein Bild. „At the end of music, all happiness will be erased“ steht darauf. Mit schnörkelloser Schrift in den Himmel geschrieben. Darunter: Ein Berg, die Flanken mit Eis bedeckt, der schroffe Stein von regenbogenfarbigem Licht durchkreuzt. Es ist das Cover der zweiten „Erased Tapes Collection“, und das Motiv kann sinnbildlich verstanden werden. Denn tatsächlich hat das Label stolze Höhen erklommen und in den ersten drei Jahren seines Daseins mehr erreicht als manch anderes in seiner gesamten Geschichte: Erased-Tapes-Veröffentlichungen sind heute praktisch weltweit erhältlich, werden mit schöner Regelmäßigkeit in den maßgeblichen Online- und Printzeitschriften abgefeiert und finden trotz angeblicher Krise der Musikindustrie immer mehr Käufer. Ohne teure Werbekampagnen ist man zu einer der wenigen Plattenfirmen aufgestiegen, die in Zeiten zunehmender Nischenbildung noch ein eigenes Gesicht, den Mut zur ständigen Selbsterneuerung und vor allem eine unverkennbare Stimme besitzen. Seinen ersten Zehntausen- der hat Gründer Robert Raths also bereits bestiegen. Doch wohin geht die Reise von hier aus?

Kreative Überzeugungsarbeit

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Gerade ist Raths in seiner Londoner Wohnung und fühlt sich ganz und gar nicht auf dem Gipfel. Gestern war er mit einer seiner Bands bei einem Konzert, ist bis zum Schluss geblieben und hat sich die Stimme heiser geredet. Trotzdem ist er bester Dinge, trinkt mehrere Tassen Kaffee und will unbedingt so viel wie möglich über die derzeit angesagten Bands Deutschlands erfahren. Denn obwohl er sich in seiner neuen Wahlhei- mat überaus wohl fühlt, überrascht er seine internationalen Freunde unterwegs gern damit, wie kreativ die Szene seines Geburtslands ist: „The Notwist sind im Tourbus immer ganz groß“, erzählt er, „ich war schon fast ein bisschen stolz, als ich Leuten wie Ólafur Arnalds und Kyte, die noch nie von der Band gehört haben, 'Neon Golden' vorspielte und sie auf Anhieb mitgesungen haben. Sie waren dann sehr verblüfft, als ich ihnen erzählte, dass die aus Bayern kommen.“ Gelegenheiten, sich über das Thema auszutauschen, gibt es gerade genug, denn seit ein paar Monaten klopfen vermehrt deutsche Medienvertreter bei ihm mit Interviewanfragen an. Und nicht immer sind das nur die üblichen Verdächtigen. Eine Woche vor unserem Telefonat hat Raths mit den Vertretern der Jazzthetik gesprochen – ein gewagter stilistischer Sprung, der aber angesichts des eklektischen Geschmacks von Erased Tapes durchaus Sinn macht.

Tradition und Gegenentwurf

Es ist nicht schwer zu erraten, weswegen Raths zurzeit ein so gefragter Gesprächspartner ist. Mit ansteckender Begeisterung und bedingungslosem Einsatz ist es ihm gelungen, in Zeiten rapide sinkender Absatzzahlen im Kerngeschäft der Plattenindustrie nicht nur einen kompletten Gegenentwurf zu den üblichen Branchengesetzen zu formulieren, sondern diesen außerdem noch mit Erfolg auf dem Markt zu etablieren. Erased Tapes fällt sofort durch seinen wunderbar eigensinnigen Katalog auf, in dem der euphorische Post-Rock von „Codes In The Clouds“ neben dem futuristisch knarzenden Elektro-Funk von Ryan Wests „Rival Consoles“ steht, die klassisch angehauchten Kompositionen Ólafur Arnalds' mit der zerbrechlich triumphierenden Impro-Klassik des Berliners Nils Frahm kontrastieren und der feinsinnige Post-Folk von Peter Broderick aus Portland mit den Club-Tunes der isländischen Techno-Supergroup Kiasmos kollidiert. All das kann man nun auf der bereits angesprochenen „Erased Tapes Collection“ nachhören – einen vielseitigeren, ungewöhnlicheren und dabei dennoch stimmigeren Labelsampler wird man in diesem Jahr wohl vergeblich suchen.

Dabei hat Raths das Rad nicht neu erfunden. Man könnte sogar mit Fug und Recht behaupten, dass sein Geisteskind durch eine Kombination aus eher traditionellen Zutaten gewachsen ist: zeitlose Musik, ambitionierte Künstler, endlose Konzertreisen und optisch ansprechende Produkte. Natürlich sind ihm die Methoden des digitalen Zeitalters nicht fremd: Bevor Arnalds' „Found Songs“ offiziell erschien, stellte er eine Woche lang jeden Tag einen neuen Song kostenlos online – und verführte selbst notorische „Free Culture“-Fanatiker anschließend zum Kauf der Scheibe. Wie selbstverständlich sind alle Alben grundsätzlich auch in digitalen Formaten erhältlich, und der aktuelle Sampler ist sowohl umsonst in niedriger Audioqualität, als auch in einer kostenpflichtigen, hochauflösenden Version erhältlich. Doch das Kerngeschäft sind die eigentlich längst totgesagten Formate: CDs und LPs, grundsätzlich liebevoll gestaltet und aufwändig produziert – man schaue sich dafür nur die detaillierte Innenseite des Klappcovers von Nils Frahms' „Wintermusik“ an.

Emotionen & Business

Nicht nur für die visuelle Präsentation ist Raths, der nicht als aufstrebender Plattenboss, sondern zum Architekturstudium nach England zog, selbst zuständig. In den ersten Jahren des Labels hat er praktisch alles selbst gemacht, dabei in drei bis vier Zeitzonen gleichzeitig gelebt und sich als Vertriebler, Marketingchef, Tourmanager und künstlerischer Berater betätigt. Noch heute gilt das Versprechen, dass er jede Band, die ihn darum bittet, auf ihrer ersten Tournee begleitet – und wann immer sich die Gelegenheit ergibt, schaut er auch immer wieder gern bei Auftritten bereits etablierter Acts vorbei. Erased Tapes ist, ohne es groß aussprechen oder sich damit brüsten zu müssen, eine Familie, und wie ein Vater sorgt sich Raths um das Wohl und Weh seiner Schützlinge. Wenn Unsicherheit in kreativen Aspekten besteht, macht er Verbesserungsvorschläge. Wenn Organisationstalent gefragt ist, greift er zum Hörer. Und ist eine noch junge Band enttäuscht über geringe Ticketverkäufe, gilt es, die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Bei diesem permanenten Multitasking besteht natürlich stets die Gefahr, nicht mehr mithalten zu können: „Es gibt eine natürliche Wachstumsgrenze, und auf die stoße ich jedes Mal. Ich habe mir von von Anfang an mehr aufgeladen, als ich tragen konnte. Ich bin halt nicht der Typ, der um fünf Uhr den Hammer fallen lässt. Ich war immer sehr ambitioniert und habe gesagt, dass ich nach ein paar Jahren auch Leute mit an Bord nehmen möchte.“ Jetzt aber, da Erased Tapes den Sprung in die erste Label-Bundesliga geschafft hat, fühlt es sich plötzlich vollkommen natürlich an, Vorstellungsgespräche zu führen und den ersten Praktikanten einzustellen.

Dabei fühlt Raths natürlich gerade mit den Rückschlägen seiner Bands mit. In gewisser Hinsicht war Erased Tapes der Versuch, übersehenen Künstlern eine Plattform zu bieten und sie für ihre kreative Leistung angemessen zu entlohnen. Gerade deswegen kam für ihn nie in Frage, ein sogenanntes Boutique-Label zu eröffnen, bei dem die Auflagen klein und limitiert, die finanziellen Mittel gering und die Aussicht, davon den Lebensunterhalt bestreiten zu können, gleich Null gewesen wäre. Sich mit pragmatischen Nebenjobs über Wasser zu halten wäre deshalb für ihn undenkbar: „Ich werde sehr emotional, wenn es ums Business geht. Ich möchte wirklich, dass der Künstler ein gewisses Selbstbewusstsein beibehält. Es ist teilweise fürchterlich mit anzusehen, wie Künstler heute behandelt werden. Das Kaufen von Alben gehört für mich zur Beziehung zwischen Kreativen und Hörern dazu. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass die auf Erased Tapes vertretenen Gruppen nebenbei im Callcenter telefonieren müssen. Ich möchte, dass der Musiker das Gefühl hat, dass er das tun kann, was seine Bestimmung ist. Deswegen war es für mich beim Aufbau des Labels wichtig, dass es für den Künstler nicht so aussieht, als sei alles ein Schlaraffenland und nur schöne Kunst. Es ging mir auch konkret darum, wirtschaftlich etwas zu etablieren, was mich und den Künstler in eine Position bringt, in der wir auf lange Sicht Musik produzieren können.“

Ein untrügliches Gespür

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Nun sieht so manches rückblickend bedeutend einfacher aus, als es in Wahrheit gewesen ist. Und auch Robert Raths fragt sich manchmal, worin genau seine Leistung bestand und ob „die Dinge nicht ohnehin von selbst gelaufen wären“. Doch steht unumstritten fest, dass er ein untrügliches Gespür für die richtigen Acts zum richtigen Zeitpunkt hatte. Als er mit Ryan West aus Leicester Kontakt aufnahm, hatte sich noch niemand für seine Musik interessiert und West hatte nicht viel mehr aufzuweisen als einen MySpace-Account. Raths bot eine Veröffentlichung an und landete direkt mit der „Vemeer“-Single und der „The Decadent“-EP zwei Volltreffer. Ólafur Arnalds schien andersherum bereits kontraktuell verpflichtet, als Raths seine Musik entdeckte und sich Hals über Kopf in sie verliebte – zu einem Zeitpunkt, als Arnalds als Solokünstler noch gänzlich unbekannt war und sich vor allem durch seine Hardcore-Projekte und als gelegentlicher Arrangeur von Streichorchestern einen Namen gemacht hatte. Für Raths stand allerdings fest: „Das ist einer von uns, der muss mit aufs Label!“ Er schrieb ihn schließlich ganz unverbindlich an, bestellte ein T-Shirt und erfuhr, dass der Isländer zwar in der Tat einen Vertrag besaß, aber noch nicht ganz zufrieden mit diesem war. So kam es schließlich dazu, dass „Eulogy for Evolution“ auf Erased Tapes erschien und sich rasch zu einem weltweiten Überraschungserfolg entwickelte.

Die Basis für diese Entscheidungen ist nicht so sehr persönlicher Geschmack: „Das klingt zu sehr nach etwas, was feststeht, und mein Geschmack kann sich schließlich ändern“. Vielmehr ist es die Bereitschaft, etwas Neues zu wagen, das inspiriert, den eigenen Horizont zu erweitern. Allerdings schränkt Raths ein: „Dieser Aspekt des ‚Neuen‘ gilt dabei nur für mich persönlich. Aber für das Label geht es darum, dass wir zum richtigen Zeitpunkt etwas machen, das uns voranbringt.“ So bleibt Raths immer am Ball und bemüht sich darum, dass sich sein Unternehmen niemals festfährt. Bei manchen Themen fällt ihm selbst auf, „dass ich jetzt wie ein Labelboss klinge“ – und das gefällt ihm nicht. Gleichzeitig ist er bereits dabei, den nächsten kreativen und geschäftlichen Schub vorzubereiten und allzu dogmatische Vorstellungen davon, wofür das Label steht, aufs Neue zu widerlegen. Natürlich ist das gelegentlich eine durchaus nicht ungefährliche Gratwanderung. Doch hat sich das Wagnis bislang immer gelohnt: Ohne Erased Tapes wäre die Musiklandschaft tatsächlich um ein Quäntchen Glück ärmer.

von Tobias Fischer

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