Kann jeder im digitalen Zeitalter ein Star sein?

Geschrieben von Alexander Bota-Weber
30.03.2011
10:00 Uhr

Wer hatte denn ernsthaft geglaubt, dass sich nur deshalb, weil sich plötzlich bequem Daten von einer Ecke des Planeten zur anderen schicken lassen, gleich alle Regeln des Geschäfts auf den Kopf stellen ließen und über Jahrzehnte gewachsene Industriestrukturen ausgehebelt würden? Wo sind die Millionen hungriger Konsumenten, die wie ausgetrocknete Schwämme nach der „wirklich gute Musik“ eines befreiten Marktes geifern? Über die Mythen einer angeblichen digitalen Demokratisierung.  von Tobias Fischer

(Bild: Tobias Fischer)

Was ist schon über das neue digitale Musikzeitalter für ein Unsinn geschrieben worden. Ein paar Jahre lang vergnügten sich die Medien auf einer bunten Spielwiese voller steil steigender Trendkurven, grell leuchtender Kuchendiagramme und euphorisierender Prognosen. Ganz klar: Es war eine spannende Zeit. Doch inzwischen ist die Karawane weitergezogen. Und seien wir mal ehrlich: Wer hatte denn ernsthaft geglaubt, dass sich nur deshalb, weil sich plötzlich bequem Daten von einer Ecke des Planeten zur anderen schicken lassen, gleich alle Regeln des Geschäfts auf den Kopf stellen ließen und über Jahrzehnte gewachsene Industriestrukturen ausgehebelt würden? Stattdessen räkeln sich noch immer weitgehend dieselben Figuren an der Spitze der Charts. Die schöne neue Welt, in der man von zuhause aus seine eigene Marke wie selbstverständlich an Millionen hungriger Konsumenten vermarkten könne, ist ausgeblieben.

Der Schwanz mit dem Hund

So wie es aussieht, hat die Realität Chris Anderson also widerlegt. Der Ökonom hatte noch 2006 mit seiner „Long Tail“-Theorie Aufsehen erregt und zumindest zeitweise Hoffnung gespendet: Die Summe aller noch so kleinen Downloads von obskuren und vergriffenen Veröffentlichungen, so Anderson, werde schon bald das Volumen des physischen Tonträgermarktes mit seiner Dominanz weniger profitabler Hits übersteigen, der Schwanz also sozusagen mit dem Hund wedeln. Eine reizvolle, doch letztlich unzutreffende These, wie die niederländische Tageszeitung NRC Handelsblad jetzt befand. Andersons britische Kollegen Will Page und Andrew Bud ermittelten nämlich, dass nur 52000 Alben aus einer Menge von 13 Millionen (!) insgesamt erhältlichen musikalischen Veröffentlichungen achtzig Prozent des Online-Umsatzes des Jahres 2008 ausmachten. Zehnmillionen Platten wurden erst gar nicht heruntergeladen. Der Traum der digitalen Demokratisierung ist geplatzt.

Diese Entwicklungen stellen zudem eine weitere Kernthese der Online-Bewegung maßgeblich in Frage: Dass in einer dezentral strukturierten Kulturlandschaft jeder ein Star sein könne. Dieser Ansatz stand natürlich von Anfang an auf wackligen Füßen: Wenn tatsächlich jeder ein Star (im duden'schen Sinne einer herausragenden Persönlichkeit) wäre, wäre trivialerweise keiner einer. Die sinnvollere Frage besteht daher wohl eher darin, was stattdessen einen Star des digitalen Zeitalters überhaupt ausmacht. Verkaufszahlen können hier nur bedingt als Maßstab herhalten. So erfuhr ich von dem Leiter eines befreundeten Online-Labels mit sehr guten Verbindungen und ausgezeichnetem Ruf in der Szene, dass deren letzte EP bei Beatport gerade einmal fünfzig Mal über den virtuellen Tresen gegangen war. Gegenüber den 500000 Exemplaren, die Britney Spears' neuestes Album „Circus“ zeitgleich umsetzte, eine eher zu vernachlässigende Quantität. MySpace-Freunden wird man wohl ebenfalls kaum Aussagekraft bescheinigen wollen.

Zielgenauigkeit vor Präsenz

Medienpräsenz spielt indes zwar durchaus eine Rolle, sie ist aber schwerer fassbar denn je. Die Masse an verfügbaren Publikationen ist selbst für Insider nicht mehr zu übersehen, die Vielfalt an lokalen Szenen erschlagend, das Überschneidungspotenzial von Interessengruppen selten rational erklärbar. Hohe Leserzahlen haben sich als weniger wichtig als Zielgruppengenauigkeit herausgestellt: Nach eigenen Angaben schaltete der ehemalige Japan-Sänger David Sylvian für sein Album „Blemish“, herausgegeben auf seinem eigenen Label „Samadhi Sound“, nur eine einzige Anzeige in einer relativ kleinen Zeitschrift. Die bescherte ihm aber aus dem Stand heraus 15000 Käufer, ohne dass irgendein Journalist groß davon Notiz genommen hätte.

Vielleicht hilft es daher, sich dem Begriff ganz praktisch zu nähern: Man ist heutzutage schon ein Star, wenn man es schafft, von der Musik (egal ob recht oder schlecht) auf lange Sicht den eigenen Unterhalt zu bestreiten. Gerade weil aber die Möglichkeiten, professionell klingende Produkte in Eigenregie zu erstellen, rapide angestiegen sind, ist das Phänomen des Profimusikers so einzigartig wie noch nie. Der entscheidende Grund dafür ist schnell benannt: Es reicht für einen Musiker oder Produzenten bei weitem nicht mehr aus, sich lediglich durch Klänge oder Kompositionen auszuzeichnen. Mal ganz abgesehen von den Erfordernissen der Buchhaltung und des Controllings, also dem grundlegenden alltäglichen Handwerkszeug zur Leitung des eigenen Betriebs, hat sich die Berufssparte um einige essenzielle Voraussetzungen erweitert: 

  • Die Fähigkeit, den visuellen Teil von Veröffentlichungen entweder selbst zu realisieren, koordinierend zu überwachen oder zumindest die von anderen angelieferten Ergebnisse qualitativ einschätzen zu können. Dies reicht vom schnöden Coverdesign bis hin zu komplex programmierten Webseiten und Videos.
  • Ein kommunikatives Talent und ein Interesse daran, Freunde, (potenzielle) Geschäftspartner und ganz einfach musikalisch Interessierte in Blogs oder Artikeln am eigenen Schaffen auch schriftlich teilhaben zu lassen.
  • Ein Händchen für Medien- und Marketingstrategien. Darunter fallen Entscheidungen für die zu bemusternden Webzines und Printmagazine, Anzeigenschaltungen, Distributionskanäle und der Aufbau eines Netzwerks an Partnern aus den verschiedensten relevanten Branchen.

Es ist dabei ganz natürlich, dass sich Konstellationen und Bündnisse kontinuierlich verändern und verschieben. Dass eine Band wie Depeche Mode über einen Zeitraum von elf Studioalben und einem Vierteljahrhundert bei derselben Plattenfirma bleibt, kann man heute ruhigen Herzens ausschließen – genauso wie die Veröffentlichung von nur einem einzigen Werk alle zwei Jahre überholt erscheint. Stattdessen bietet sich heutzutage – soweit qualitativ realisierbar – ein Portfolio von mehreren Alben, EPs und Titeln bei verschiedenen international gestreuten Plattenfirmen und Plattformen pro Jahr an.

 

Prognosen

Selbst wenn alle oben genannten Faktoren gegeben sind, kann man über die Chancen, ein Star zu werden, nur wenig Wissenschaftliches aussagen. Wirklich sinnvoll auswertbares statistisches Material ist Mangelware, stattdessen hangelt man sich mühselig von Fallbeispiel zu Fallbeispiel, um zu einigermaßen allgemeinen Aussagen und Vorhersagen zu gelangen. Trotz fehlender Zahlen lassen sich dennoch auf der Basis des gesunden Menschenverstandes ein paar Aussagen treffen:

Vinyl wird als Trägermedium weiter an Bedeutung gewinnen, aber allein aufgrund der hohen Produktionskosten ein Nischenprodukt bleiben. Die Bedeutung von CDs und CD-Rs wird weiter sinken. Es gibt aber gute Gründe anzunehmen, dass beide Formate niemals gänzlich verschwinden werden: Kunstvolle Verpackungen machen inzwischen selbst großformatigen Vinylausgaben Konkurrenz, und die niedrigen Herstellungskosten machen sie zu attraktiven physischen Alternativen zum immateriellen Download. Downloads werden schon bald den größten Teil des Marktes beanspruchen. Neue Preismodelle und Probemöglichkeiten dürften dabei auch die letzten Zweifler überzeugen. Netlabels werden auch weiterhin neben kostenpflichtigen Angeboten den Einstieg erleichtern und das Sortiment bereichern. Liveauftritte bleiben auf dem aufsteigenden Ast und werden schon in Kürze um ein breites Angebot an gestreamten Konzerten ergänzt werden.

Für einen zukünftigen Star gilt es also nicht mehr so sehr, das eigene Gesicht möglichst oft in den richtigen Blättchen und TV-Sendungen zu platzieren. Stattdessen ist eine individuelle Strategie gefragt: Will ich mit oder ohne Bühneneinsatz reüssieren? Auf welchem Format veröffentliche ich? Wo und wie oft veröffentliche ich?

Weil die Balance zwischen den verschiedenen Elementen äußerst delikat ist und der Erfolg ein starkes Glücksmoment beinhaltet, wird auch weiterhin nicht jeder ein Star sein können. Kapital bleibt dabei auch im 21. Jahrhundert ein wichtiges Argument: Ohne die Bereitschaft, in die eigene Karriere und eine professionelle Präsentation zu investieren, geht auch in der digitalen Welt gar nichts.

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