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Kann jeder im digitalen Zeitalter ein Star sein?

Wer hatte denn ernsthaft geglaubt, dass sich nur deshalb, weil sich plötzlich bequem Daten von einer Ecke des Planeten zur anderen schicken lassen, gleich alle Regeln des Geschäfts auf den Kopf stellen ließen und über Jahrzehnte gewachsene Industriestrukturen ausgehebelt würden? Wo sind die Millionen hungriger Konsumenten, die wie ausgetrocknete Schwämme nach der „wirklich gute Musik“ eines befreiten Marktes geifern? Über die Mythen einer angeblichen digitalen Demokratisierung.  von Tobias Fischer

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Was ist schon über das neue digitale Musikzeitalter für ein Unsinn geschrieben worden. Ein paar Jahre lang vergnügten sich die Medien auf einer bunten Spielwiese voller steil steigender Trendkurven, grell leuchtender Kuchendiagramme und euphorisierender Prognosen. Ganz klar: Es war eine spannende Zeit. Doch inzwischen ist die Karawane weitergezogen. Und seien wir mal ehrlich: Wer hatte denn ernsthaft geglaubt, dass sich nur deshalb, weil sich plötzlich bequem Daten von einer Ecke des Planeten zur anderen schicken lassen, gleich alle Regeln des Geschäfts auf den Kopf stellen ließen und über Jahrzehnte gewachsene Industriestrukturen ausgehebelt würden? Stattdessen räkeln sich noch immer weitgehend dieselben Figuren an der Spitze der Charts. Die schöne neue Welt, in der man von zuhause aus seine eigene Marke wie selbstverständlich an Millionen hungriger Konsumenten vermarkten könne, ist ausgeblieben.

Der Schwanz mit dem Hund

So wie es aussieht, hat die Realität Chris Anderson also widerlegt. Der Ökonom hatte noch 2006 mit seiner „Long Tail“-Theorie Aufsehen erregt und zumindest zeitweise Hoffnung gespendet: Die Summe aller noch so kleinen Downloads von obskuren und vergriffenen Veröffentlichungen, so Anderson, werde schon bald das Volumen des physischen Tonträgermarktes mit seiner Dominanz weniger profitabler Hits übersteigen, der Schwanz also sozusagen mit dem Hund wedeln. Eine reizvolle, doch letztlich unzutreffende These, wie die niederländische Tageszeitung NRC Handelsblad jetzt befand. Andersons britische Kollegen Will Page und Andrew Bud ermittelten nämlich, dass nur 52000 Alben aus einer Menge von 13 Millionen (!) insgesamt erhältlichen musikalischen Veröffentlichungen achtzig Prozent des Online-Umsatzes des Jahres 2008 ausmachten. Zehnmillionen Platten wurden erst gar nicht heruntergeladen. Der Traum der digitalen Demokratisierung ist geplatzt.

Diese Entwicklungen stellen zudem eine weitere Kernthese der Online-Bewegung maßgeblich in Frage: Dass in einer dezentral strukturierten Kulturlandschaft jeder ein Star sein könne. Dieser Ansatz stand natürlich von Anfang an auf wackligen Füßen: Wenn tatsächlich jeder ein Star (im duden'schen Sinne einer herausragenden Persönlichkeit) wäre, wäre trivialerweise keiner einer. Die sinnvollere Frage besteht daher wohl eher darin, was stattdessen einen Star des digitalen Zeitalters überhaupt ausmacht. Verkaufszahlen können hier nur bedingt als Maßstab herhalten. So erfuhr ich von dem Leiter eines befreundeten Online-Labels mit sehr guten Verbindungen und ausgezeichnetem Ruf in der Szene, dass deren letzte EP bei Beatport gerade einmal fünfzig Mal über den virtuellen Tresen gegangen war. Gegenüber den 500000 Exemplaren, die Britney Spears' neuestes Album „Circus“ zeitgleich umsetzte, eine eher zu vernachlässigende Quantität. MySpace-Freunden wird man wohl ebenfalls kaum Aussagekraft bescheinigen wollen.

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