Investitionsobjekt Netlabel

Geschrieben von Beat
03.10.2011
08:49 Uhr

Jahrelang wurden Netlabels von traditionellen Plattenfirmen belächelt. Abgetan als von naiven Idealisten betrieben, stand ihr Modell für hohe Investitionen ohne Aussicht auf Gewinn. Tatsächlich haben viele Betreiber nach einer Phase der kollektiven Euphorie Anfang des neuen Jahrtausends inzwischen bereits wieder aufgegeben und ihre digitalen Türen geschlossen – vielleicht zu früh: Wie der Deal zwischen dem berühmten Mastering-Engineer Scott Hull und Workbench Recordings zeigt, könnten Netlabels schon bald zu wichtigen und finanziell ertragreichen Spielern im Musikmarkt werden.

(Bild: www.scotthullmastering.com)

Zwei Biographien, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Scott Hull ist einer der führenden Mastering-Ingenieure in den USA. Er hat mit Bruce Springsteen, David Bowie, Howie B und Herbie Hancock zusammengearbeitet, mit den Jazz-Rock-Pionieren Steely Dan einen Grammy gewonnen und in Deutschland für die schwäbischen Softpopper von Pur deren aktuelles Chartalbum verfeinert. Seine Arbeiten werden von der Danceszene bis hin zur Klassikgemeinde geschätzt und sind derart erfolgreich, dass sich Hull noch vor kurzem endlich die Räumlichkeiten seines berühmten Masterdisk-Studios offiziell kaufen konnte. James Beaudreau ist hingegen ein eher lokal bekannter New Yorker Designer. Als Gitarrist feierte er mit der Band „The Billy Nayer Show“ kurzzeitig Erfolge, danach hat er mit seinen beiden Soloalben „Java St. Bagatellen“ und „Fresh Twigs“ zwei von der Kritik bejubelte Alben veröffentlicht, davon jedoch kaum mehr als eine Handvoll Exemplare abgesetzt. Seit knapp einem Jahr betreibt er seine Plattenfirma Workbench Recordings als Netlabel und erreicht damit ein kleines, aber hochinteressiertes Publikum. Man sollte meinen, als spielten diese beiden Musikbesessenen in unterschiedlichen Ligen und hätten rein gar nichts gemeinsam. In Wahrheit sind Hull und Beaudreau jedoch seit geraumer Zeit Geschäftspartner – und ihre Zusammenarbeit ist ein Vorbote für die ungeahnt spannende Zukunft der Netlabelszene.

Traditionelle Weisheiten

Das wird für alle Zweifler eine riesige Überraschung sein, die es bislang mit traditionellen Weisheiten hielten: „Von Nichts kommt nichts“, wusste doch schon die Großmutter, und dementsprechend schwierig war es für die meisten auf Creative-Commons-Lizenzen basierenden Plattenfirmen, trotz harter Arbeit mit einem letztendlich kostenlosen Produkt zu Geld zu kommen. Einige wenige wagten den Schritt in die Welt kommerzieller Downloads, inzwischen gibt es auch eine Reihe von Zwittern, die sowohl physische Alben, als auch kostenfreie Musik anbieten. Doch gehen die Stückzahlen zumeist kaum über das Maß eines sogenannten Boutique-Labels mit limitierten Auflagen hinaus. Die Lösung der meisten Netlabels besteht daher darin, die Musik als einen Brennpunkt für eine Reihe an komplementären Angeboten und Dienstleistungen zu betrachten, mit denen man bedeutend leichter zu monetären Umsätzen kommen kann. Und so organisiert man Partys, druckt T-Shirts oder bietet geschmackvolles Webdesign an – und hofft zumeist inständig darauf, dass sich der gute Markenname aus dem Internet in die „reale“ Welt portieren lässt.

Auch bei Scott Hull und James Beaudreau geht es um die Verbindung zwischen kostenpflichtigen Angeboten und freier Musik, um die Zusammenarbeit zwischen einer in erster Linie idealistischen Community und einer gewachsenen Firma: Seit Januar dieses Jahres werden alle Veröffentlichungen auf Workbench Recordings vom Profi Scott Hull gemastert, ohne dass er sich dafür entlohnen lässt. Das ist bemerkenswert, denn durch seine Arbeit werden die Aufnahmen der auf Workbench vertretenen Künstler bedeutend aufgewertet: „Die meisten Veröffentlichungen wurden bisher meist in einem leerstehenden Zimmer meines Appartments aufgenommen. Dabei habe ich nicht viel mehr als ein Mac PowerBook, Pro Tools 003 Rack, drei billige Mikrofone und Vorverstärker sowie ein paar ordentliche Effekt-Plug-ins verwendet“, so Beaudreau. Und weiter: „Ich mag zwar die Ästhetik solcher Aufnahmen, aber ich wurde es leid, gegen unerwünschte Störgeräusche vom Kühlschrankmotor und der Heizung anzukämpfen. Und so gesehen sind einige der Verbesserungen eher diskret, andere aber geradezu dramatisch.“ Auch fand ganz direkt ein wertvoller Wissenstransfer statt: „Scott hat manchmal Schwierigkeiten im Mix erkannt, die ich überhaupt nicht gehört habe.“

Am Puls der Zeit bleiben

Was bringt jemanden wie Scott Hull aber dazu, Beaudreau unter die Arme zu greifen? Wie sich herausstellt, gab es eine Vielzahl von Gründen. Zum einen war Hull ein Neuling in der Netlabelwelt, und es interessierte ihn schlicht, ob der mangelnde Erfolg mancher digitaler Plattformen vielleicht darauf zurückzuführen sei, dass diese nur selten professionell gemastert wurden und somit oft klanglich einem kommerziellen Produkt nicht ebenbürtig waren. Dabei stellte er auch für sich selbst den Anspruch, eine Methode zu finden, gleichzeitig kosteneffizient vorzugehen und dennoch qualitativ hochwertige Arbeit abzuliefern. Außerdem gefiel ihm die Unabhängigkeit von Workbench in Bezug auf gängige Genres: Denn umso mehr sich die Welt von einem klar definierbaren Mainstream wegbewegt, umso wichtiger wird es für Masteringstudios, nicht etwa für eine bestimmte Szene zu stehen, sondern für stilistische Offenheit.

Der ausschlaggebende Grund für die Zusammenarbeit allerdings besteht darin, dass Hull am Puls der Zeit bleiben will. Und für ihn sind Netlabels, unabhängig von ihrer derzeitigen kommerziellen Nischenstellung, die Zukunft: „Die gesamte Branche bewegt sich in Richtung einer digitalen Welt. Auch ich komme nicht mehr um das Thema herum“, so Hull. „Die Leute fragen sich: Verkaufen wir überhaupt noch genug CDs, um die Herstellungskosten zu rechtfertigen? Sollten wir uns vielleicht lieber für eine CD-R entscheiden? Ist möglicherweise eine limitierte CD- oder Vinylauflage die beste Option? Für uns als Masteringstudio sind solche Entscheidungen von essenzieller Bedeutung. Ich meine, dass wir eine Informationsquelle sein und die Trends antizipieren müssen, ehe sie sich ohne uns entfalten. In der Vergangenheit haben wir vorübergehend ausschließlich mit unseren Majorlabel-Partnern zusammengearbeitet. Als sich die Industrie dann eher zu den Independent-Labeln verlagerte, haben auch wir uns umorientiert und neue Beziehungen geknüpft. Jetzt befinden wir uns in einer Situation, in der der Markt noch mehr zersplittert. Es gibt neue Vertriebsmodelle und die einzelnen Marktanteile werden immer kleiner. Wir müssen herausfinden, was die Bedürfnisse dieser neuen potenziellen Kunden sind. Wir müssen Möglichkeiten anbieten, damit ihre Musik aus der Masse hervorsticht.“

Der Deal mit Masterdisk ist somit lediglich ein erster Annäherungsversuch an dieses Ideal und wurde zusätzlich noch dadurch begünstigt, dass Beaudreau für das Label eine Strategie entworfen hat, bei der die EPs und Alben als Serienveröffentlichung angelegt sind, bei denen nur einmal pro Woche oder Monat ein neuer Track erscheint. Dadurch wird die Logistik des Unterfangens bedeutend vereinfacht.

Nützliches Wissen

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Der Erfolg des Deals wird sich erst im Laufe der Zeit herauskristallisieren. Zunächst kann immerhin festgehalten werden, dass dank der Berichterstattung über die Zusammenarbeit und die hochwertigen Produktionen stets pünktlich zur Veröffentlichung eines neuen Tracks ein wahrer Ansturm auf die frische Ware einsetzt. Trotzdem entscheiden sich nur wenige Musikliebhaber für den bedeutend besseren, aber kostenpflichtigen FLAC-Download im Gegensatz zur kostenlosen MP3-Datei. Was für Beaudreau aber derzeit viel mehr zählt, ist der Beweis, dass er aufgrund seiner Erfahrungen etwas anzubieten hat, was für eine etablierte Firma wie Masterdisk von unschätzbarem Wert ist: „Wir befinden uns ja immer noch in den frühen Tagen des Netlabelmodells“, erzählt er, „und ich gehe davon aus, dass sich der Trend dorthin weiter durchsetzen wird – einfach, weil es Sinn ergibt: Es ist so viel günstiger, im Netz Musik zu veröffentlichen als auf dem traditionellen physischen Weg. Und ich denke, dass die meisten Leute, die ein Netlabel betreiben, nicht nur technisch versiert sind, sondern auch eine ziemlich gute Vorstellung davon haben, wie ein Thema wie Promotion im Internet funktioniert.“

Scott Hull prognostiziert sogar eine Zukunft, in der erfolgreiche Netlabels zu einem Investitionsfaktor werden können: „Sobald sich die Vorstellung durchgesetzt hat, dass Netlabels als ein ernstzunehmendes modernes Musik-Marketing-Werkzeug eingesetzt werden können, werden sich die Majors darauf stürzen – entweder, indem sie bereits existierende Marken aufkaufen oder ihre eigenen etablieren. Wenn wir als Masterdisk wissen, wie man in diesem Netlabelmarkt bestehen kann, dann werden wir davon profitieren, unabhängig mit einer Vielzahl von Plattformen zusammenzuarbeiten – genau wie wir es jetzt mit Indies und Majors auf der ganzen Welt tun.“

Die Vision, die dahinter steht, ist eine kühne. Denn sie impliziert, dass die Zukunft aus einem engen Geflecht aus physischen und digitalen Plattformen, kostenfreien und -pflichtigen Downloads, aus Idealismus und marktwirtschaftlichem Kalkül, aus Mainstream und Underground, aus Musik und musikbezogenen Produkten, aus Wissen und Kapital, aus lokalen Szenen und weltweiten Communitys, aus offizieller Promotion und sozialen Netzwerken und sowohl aus Profis als auch Hobbykünstlern bestehen wird – also aus einem komplexen Amalgam aus allem, was man sich an Fantastischem für die Branche nur vorstellen kann.

Erstaunlicherweise aber spielen dabei Netlabels durchaus nicht mehr die alleinige Rolle des Experimentallabore und der idealistischen Fantasten. Ihre Erfahrung, durch diese unwägbaren und undurchsichtigen Gewässer zu manövrieren, könnte sich schon bald zu einem äußerst begehrten Gut entwickeln.

von Tobias Fischer

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