Interview: Siegmar Fricke – Pharmakustik

Geschrieben von Beat
06.12.2011
18:46 Uhr

„Klinisch“ ist in der Musik ein eher negativ besetzter Begriff. Trotzdem hat sich die Medizin als eine äußerst fruchtbare Metapher für Siegmar Frickes Produktionen erwiesen. Mit der Pharmakustik stellt er eine ganz eigene Herangehensweise vor, bei der das Studio zum Forschungslabor, Sounds zu Untersuchungsobjekten und die Klangsynthese zu einem scharfen Skalpell werden. Dabei spielt seine Leidenschaft, allzu Bekanntem aus dem Weg zu gehen, eine ebenso große Rolle wie der anhaltende Einfluss der Krautrock- und Avantgarde-Pioniere.

(Bild: beat.de)

Obwohl für Fricke traditionelle Begriffe wie Harmonie, Rhythmus und Melodie bei der Produktion zunächst einmal tabu sind, haben seine Tracks nichts von der oft weltabgewandten, esoterischen Kunstmusik vieler Kollegen aus dem Experimentalbereich. Vielmehr sollen sich diese grundlegenden Parameter geradezu von selbst aus dem Kompositionsprozess herausschälen. „Essentiell bei der Entwicklung eines Tracks ist immer die Realisation eines idiosynkratischen (im Sinne von eigentümlichen, Red.) Klangs. Die einzelnen verwendeten Soundpartikel müssen von vornherein in ein klinisch-ästhetisches Gesamtbild passen und interessant, spannend und ungewöhnlich sein“, sagt Fricke über den Anspruch an das eigene Schaffen, das er ganz bewusst von der derzeitigen Tendenz zu mehr Eingängigkeit und akustischen Sounds abgrenzt: „Elektronische Musik sollte auch elektronisch klingen und sich nicht auf die Simulation natürlicher Instrumente und Klangfarben beschränken“. Diesen Anspruch hat er in nun beinahe dreißigjährigem Schaffen, in dem er sich mit grobkörnigem Industrial, futuristischem Elektro, betörendem Ambient und schwebenden Drones der gesamten Bandbreite elektronischer Musik gewidmet hat, und vor allem auf dem aktuellen Werk „Neurochemie“ klanglich auf den Punkt gebracht.

Beat / Du vergleichst deine Musik unter dem Namen Pharmakustik regelmäßig mit Medizin. Ist die heutige Musikszene denn krank?

Siegmar Fricke / Für mich steht fest, dass die wirklich innovativen Impulse in der heutigen Musikszene vom experimentellen Underground, kleinen Labels und der Klangforschung im elektronischen Sektor ausgehen. Fakt ist aber auch, dass alle musikalischen Stilrichtungen gleichberechtigt das Gesamtbild der Gegenwart prägen und nebeneinander bestehen; dabei ist die „Pharmakustik“ eine Alternative von vielen, die elektronische Musik durch innovative Strukturen und Klangbearbeitung weiterzuentwickeln und interessanter zu gestalteten. Der Begriff, also die Symbiose aus „Pharma“ und „Akustik“ traf wesentlich genauer als bereits bestehende den Kern der Sache: das Sezieren von Klängen, die Implantation von Klangbausteinen in einen neuen musikalischen Organismus, der sich in Form eines Tracks manifestiert.

Beat / Wo siehst du konkrete Parallelen zwischen einer Klinik und deiner musikalischen Herangehensweise im Studio?

Siegmar Fricke / Mein Interesse an der Medizin entstand rein aus der musikalischen Forschertätigkeit heraus. Im Jahre 1988 habe ich mit meinen musikalischen Kollegen Miguel A. Ruiz und Stefano Barban in Italien ein erstes gemeinsames Tape unter dem Pseudonym „Ambulatorio Segreto“ produziert. Unser gemeinsamer Eindruck war, dass die darauf enthaltenen Stücke wie Soundtracks zu medizinischen Dokumentarfilmen klangen. Diesen Ansatz habe ich dann in meinen frühen Soloarbeiten während der Tapeszene zwischen 1988 und 1993 weiter verfolgt und kontinuierlich verfeinert. Die Herangehensweise im Studio ist reine Klangchirurgie: Es wird seziert, implantiert, granuliert und moduliert. Kompromissloses, freies Experimentieren, ohne irgendeine musikalische Erwartungshaltung erfüllen zu müssen.

Beat / Ist die Metapher der Medizin mehr eine ästhetische Frage für dich oder hat sie auch zu einem grundlegend anderen Vorgehen geführt?

Siegmar Fricke / In erster Linie interessiert mich die Beziehung meiner Klangskulpturen zum medizinischen Gehalt. Das Ziel ist eine subjektive klangliche Veranschaulichung medizinischer Vorgänge. Musik und Medizin sind sicherlich auch zwei Wissenschaften, die eng beieinander liegen und deren Übergänge fließend sind: Man kann die Schwingungsvorgänge im menschlichen Körper während des Hörvorgangs im Oszillographen visuell darstellen. Die Klangcharakteristik der Pharmakustik lässt sich folgendermaßen beschreiben: klinischer und abstrakter Sound, granulare Rhythmusfragmente ohne wiederkehrende Patterns, elektronische Modulationen, aseptische Ambientflächen, transparente Strukturen, industrielles Sounddesign, collagenartige Verknüpfungen, klangliche Modifikationen durch zahllose Bearbeitungsschritte sowie die Implantation von vocodertransformierten Stimmen ins Klangbild. Parallel dazu betreibe ich Internetrecherchen, um nach medizinischen Termini zu suchen, die ich dann später als Titel für die entstandenen Klangskulpturen auswählen kann. Dabei spielt eine große Rolle, dass die medizinischen Begriffe in ihrer Bedeutung den klanglichen Gehalt erklären und untermalen. Pharmakustik beinhaltet zudem Bildbearbeitung und Covergestaltung, die ich selbst vornehme.

Beat / Was ist dir bei der Klangerzeugung besonders wichtig? Ist das, um im Bild zu bleiben, eher ein chirurgisches Sezieren, um zum nackten Knochen vorzustoßen oder plastische Chirurgie zur ästhetischen Verfeinerung und Ergänzung?

Siegmar Fricke / Für mich ist es sehr wichtig, bei der Klangerzeugung keine unbearbeiteten Preset-Sounds zu verwenden. Wenn ich bestimmte Klänge in den Synthesizern als Basismaterial auswähle, müssen diese von vornherein schon durch diverse Wellenformen und Parameter verändert worden sein. Ich habe zum Beispiel im Stück „Chemsynaps“ eine ambiente Fläche des Korg Poly-61 als horizontale Basis benutzt, welche sich kontinuierlich durch Oszillator und Filter in der Tonhöhe auf und ab bewegt, wodurch ein sehr hypnotisches und paralysierendes Muster erzeugt wird. Diese Klangwelle wurde dann mit körniger Rhythmik aus dem Korg Electribe und dem Alesis ModFX Bitrman in Beziehung gesetzt. Die internen Effektparameter in den Geräten sind tatsächlich eine Art ästhetische Verfeinerung des Klangs und gewährleisten die nötige Eigenständigkeit der Sounds. Neurochemie wirkt mit den zahlreichen durchgearbeiteten Effekten insgesamt wie eine akustische Frischzellenkur.

Beat / Du legst gemäß dieser Frischzellenkur großen Wert darauf, keine Melodien oder Harmonien im traditionellen Sinn zu verwenden. Warum?

Siegmar Fricke / Ja, ich habe von Anfang an stets versucht, alles über Bord zu werfen, was mich in meiner musikalischen Freiheit und Kreativität einengt: Notenlehre, Melodik, Harmonie, Songstrukturen, konventionelle Arrangements. Ich habe Songstrukturen immer als einen engen Holzrahmen empfunden, der die musikalische Kreativität einschnürt. Mitte der Achtzigerjahre hatte ich Kontakt zu Conrad Schnitzler, der damals noch in Berlin lebte und bereits 1969/70 die Formation Kluster zusammen mit Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius gründete. Er ist ein Wegbereiter der freien elektronischen Musik, und seine Faszination für Maschinenklänge entstand aus seinen zahlreichen Erfahrungen, die er als ehemaliger Maschinist gemacht hatte. Von ihm habe ich eine Menge gelernt, was innovative Musik angeht. Tatsächlich beginnt das wahre Klanguniversum erst jenseits aller konventionellen Eingrenzungen und traditionellen Denkmuster.

Revolutionärer musikalischer Neubeginn

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Beat / In wieweit ist diese Musik noch heute für dich eine Inspiration?

Siegmar Fricke / Die klassischen Elektronik-Acts wie Kraftwerk, Cluster, Neu, Klaus Schulze und Ash Ra Tempel standen für einen revolutionären musikalischen Neubeginn seit den späten Sechzigerjahren. Bereits vor dreißig Jahren begann ich, diese Musik zu hören und die Schallplatten zu kaufen. Entsprechend haben mich diese Künstler in meiner musikalischen Entwicklung bis heute entscheidend geprägt und beeinflusst. Noch vor der Krautrock-Gruppierung, die Anfang der Siebziger in Deutschland begann, gab es ja die sehr wichtige Phase der Musique concrète sowie der frühen Avantgarde. Ich war und bin ein großer Verehrer der Musik Karlheinz Stockhausens. Er steht schlichtweg für musikalische Genialität, die bislang unerreicht ist. Seine Darlegungen bezüglich Intermodulation, Metacollage und Polyphonie sind für mich eine große Inspiration. Die in den Sechzigern entstandenen Stockhausen-Werke „Kontakte“ und „Telemusik“ sind selbst der heutigen Musik noch um Lichtjahre voraus. Mitten im Rock’n’Roll-Zeitalter arbeitete er bereits mit Sinusgeneratoren, Ringmodulation und stufenlos beschleunigten beziehungsweise verlangsamten Tonband-Schnipseln.

Beat / Deine Frühphase ist demgegenüber stark von der Tapeszene geprägt …

Siegmar Fricke / Die Tapeszene zwischen 1986 und 1993 war ein sehr wichtiger kreativer Zeitabschnitt. Von Conrad Schnitzler erhielt ich damals ein Blatt mit etwa 100 Adressen von Musikern, die ich anschreiben konnte. Einige Kontakte aus der damaligen Zeit sind bis heute geblieben. Die Tapeszene war wirklich weltweit verteilt und wöchentlich erhielt ich Material aus den unterschiedlichsten Ländern, das ich gegen meine Kassettenprodukte tauschte. Die Motive für die Tapecover waren handgemacht, fotokopiert und noch mit Schreibmaschine geschrieben. Kleine Kassettenlabels haben zeitweilig sogar ihre Covervorlagen gedruckt und professionell reproduziert. Manche Tapes wie die frühen Werke von Maurizio Bianchi oder Le Syndicat sind in den Originalversionen heutzutage fast unbezahlbar, weil sie Kultstatus erreicht haben. Ein besonderes Event fand 1990 in Holland statt: Das Kassettenlabel „Hahamandad“ organisierte ein

Tapeszene-Festival, zu dem rund 200 Leute aus Europa zusammenkamen und dort Live-Gigs spielten. Ab 1993 war diese Zeit aber vorbei und ich konzentrierte mich allmählich auf die digitale Konservierung meiner Musik durch CDs, was in jenen Jahren noch sehr teuer war.

Beat / Wir hatten zu Anfang die Frage nach dem Gesundheitszustand der Musikszene gestellt. Wird aber nicht gerade heutzutage auch wieder verstärkt musikalische Forschungsarbeit geleistet?

Siegmar Fricke / Es ist geradezu fantastisch, dass sich besonders in den letzten zehn Jahren eine umfangreiche Künstler- und Labelgemeinschaft in der elektronischen Musik und Netlabelszene gebildet hat, die ein gutes Gegengewicht zur etablierten, kommerziellen Musikindustrie bildet. Auf Facebook stehe ich in direktem Kontakt zur Szene. Man hat festgestellt, dass sich auch unabhängig von den Majorfirmen hervorragend Musik auf kleineren Labels veröffentlichen lässt. Diese kleineren Labels sind auf innovative Musikrichtungen spezialisiert und setzen sich zudem viel mehr für die Künstler ein. Hier geht es nicht um Profitmaximierung durch millionenfach verkaufte Tonträger, sondern um künstlerisch hochwertige Produkte mit Pioniergeist.

Diskographie (Auszug):

Chemoclearance 2007

Antinomie 2009

Kausalnexus 2009

Meccanismorte 2009

Implantrobotik 2010

Neurochemie 2010

Equipment:

Solton Programmer 24

Crumar Bit-One

Doepfer MS-404

Korg Poly-61

Casio HZ-600

Korg DW-6000

Novation Bass-Station

Korg Electribe ER-1

Farfisa Matador M

Korg EX-800

Yamaha CS-01

Korg DDD-1

Hohner Automatic Rhythm Player

Hohner Rhythm 80

Quasimidi Technox

Kawai K1-r

Boss SP-303

Yamaha S-10

Alesis Bitrman

Alesis Metavox

Dynacord Echocord-Mini

t.c. electronic M300

Digitech S-100

Next Vox-II

Behringer Modulizer Pro

Digitech RP-50

Monacor Stereo Echorder

W&W Filterbox

Samplitude 10 SE

Acoustica

Granulab

EVP-Maker

Acoustica SE 4.1.

25 Plug-in-Effekte

von Tobias Fischer

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