Film: West Coast Theory

Geschrieben von Beat
03.10.2011
20:52 Uhr

Für manche Menschen ist Hip-Hop nicht mehr als ein Rapper mit einem Beat, für andere gar ein mystisches Buch mit sieben Siegeln. Die beiden französischen Filmemacher Felix Tissier und Maxime Giffard flogen von Paris nach Los Angeles, um der Wahrheit ein Stückchen näher zu kommen. Das Ergebnis ihrer Suche trägt nun den Titel „West Coast Theory“ und ist zu einer Dokumentation geraten, die in ihrer Tragweite deutlich über eine einfache Anleitung zum Hitproduzieren hinausgeht.

(Bild: www.myspace.com/wctheory)

Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, in einer Dokumentation über Hip-Hop allen Klischees aus dem Weg gehen – weil viele von ihnen schlicht der Wahrheit entsprechen. Auch für Felix Tissier und Maxime Giffard steht fest, dass Kalifornien sowohl ein Ausdruck urbaner Individualität, als auch eine Art von Gewalt durchzogenes Paradies auf Erden ist. Doch ist ihr Blick stets auch hinter die Fassade gerichtet – vielleicht auch deswegen, weil sie als Fremde in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten kamen und ihnen aufgrund ihres Außenseiterstatus eine Menge Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Wir sprachen mit Felix Tissier über Klischees, Beats und Attitüden.

Beat / Felix, was hat euch dazu ermutigt, mit „West Coast Theory“ einen Film über die kalifornische Hip-Hop-Szene zu drehen?

Felix / Maxime und ich haben uns vor zehn Jahren getroffen. Er hatte eine MPC und ich ein paar Plattenspieler. Also haben wir uns zusammengetan und in unserem winzigen Heimstudio Beats gebastelt. Einige Jahre später haben wir noch immer Patterns erstellt, aber wir waren uns vollkommen der Tatsache bewusst, dass unsere Mixe Müll waren. Ich arbeitete zu der Zeit für eine französische Webseite über Rap und führte gelegentlich Interviews. Das war für mich gleichzeitig die erste Erfahrung damit, eine Kamera zu halten. Eines Tages erzählte mir ein Freund, dass Richard „Segal“ Huredia, der Mann, der bei Dr. Dres zweitem Studioalbum „2001“ hinter den Reglern saß, für den Mix des aktuellen Albums des französischen Rappers Rohff in Paris sei. Maxime und ich bereiteten uns sofort zusammen auf ein Interview vor und stellten eine Liste mit ganz praktischen Fragen zusammen, die sich um das Thema Beatmaking drehten. Wie sich herausstellte, war Richard ein cooler Typ. Das Gespräch machte Spaß und wir freundeten uns an. Wir zeigten ihm alle Ecken von Paris, angefangen bei Käse und Wein bis hin zu den Nachtclubs.

Ein paar Monate später zog ich für ein Shooting nach Los Angeles und nahm wieder mit Segal Kontakt auf. Als ich bei ihm zu Hause durch die Tür spazierte, spielten die Rapper B-Real, Method Man, Proof und Fredwreck gerade Computerspiele, aßen Segals Guacamole und nahmen einen Song auf. Alle waren freundlich und total entspannt, es war komplett anders als das, was ich bislang erlebt hatte, als ich Rapper nach ihrer Show backstage traf.

Als ich dann nach Frankreich zurückkehrte, waren Maxime und ich der Meinung, dass Segal sich offensichtlich sehr wohl dabei fühlte, vor der Kamera über seinen Job und seine Erfahrungen zu reden. Also fragten wir ihn, ob er vielleicht Lust habe, mit uns eine Mixing-Masterclass-DVD zu produzieren, um sein Wissen mit Amateuren wie uns zu teilen. Ihm gefiel die Idee, aber gleichzeitig passierten in seiner Welt noch ganz andere Dinge – Dinge, die wir erklären mussten. Das Konzept weitete sich immer mehr aus. Am Ende ist eine Dokumentation daraus geworden, die sich damit beschäftigt, wie man heutzutage Platten aufnimmt.

Beat / Was hat euch, abgesehen von euren musikalischen Vorlieben, gerade an der Hip-Hop-Szene interessiert?

Felix / Viele Menschen denken ja, es sei besonders einfach, Hip-Hop zu machen und dass man dafür nicht wirklich Musiker zu muss. Es ging uns darum zu zeigen, dass die Sache doch etwas komplizierter ist, als sie scheint.

Eine einfache Produktion

Beat / Frankreich hat eine starke und einzigartige Hip-Hop-Community. Hat es das für euch einfacher oder eher schwieriger gemacht, einen Film in der Fremde zu drehen?

Felix / Der französische Markt ist groß, aber er beschränkt sich wirklich nur auf das Heimatland. Kalifornien produziert hingegen für die ganze Welt. Wenn dort in kultureller Hinsicht etwas passiert, hat das schon bald Auswirkungen auf den ganzen Planeten. Es ist also ein guter Ort um nachzuvollziehen, was in der Kulturindustrie warum geschieht. Alle um uns herum waren äußerst erstaunt darüber, dass wir an einem Thema arbeiteten, für das sich in Kalifornien selbst niemand zu interessieren scheint. In der Hinsicht hat das die Dinge einfacher gemacht.

Beat / Es war also nicht kompliziert, in der Anlaufphase zur DVD mit den verschiedenen Künstlern in Kontakt zu kommen?

Felix / Das war eigentlich recht einfach. Eine Ausnahme waren Superstars wie Snoop oder Will I Am. Wir haben uns am Anfang zunächst mit den engsten Bekannten von Segal getroffen: B-Real, Muggs, Defari, Fredwreck und Evidence. Los Angeles ist eine riesige Stadt, aber sobald du anfängst, deine Tage im Studio zu verbringen, triffst du ganz natürlich die Leute, die für dein Thema interessant sind – jeder kennt hier jeden. Falls also jemand mit uns eine gute Zeit verbrachte, half er uns gern weiter.

Eine Grenze, an die wir stießen, war Dre, der keine Kameras mag, das Geheimnis hinter seinem mehrfach verschobenen neuen Album „Detox“ zu bewahren versucht und außerdem während der Dreharbeiten Familienprobleme bewältigte. Die zweite Grenze war das Gefängnis, wo sich beispielsweise DJ Quik gerade befand.

Beat / Welche dieser Produzenten erwiesen sich als besonders ergiebige Gesprächspartner?

Felix / Je so mehr Zeit man mit einer Person verbringt, umso tiefer kann man mit ihr in ein bestimmtes Thema eintauchen. Fredwreck und Evidence haben uns sehr viel gegeben, und dafür sind wir sehr dankbar. Fredwreck hat einen starken musikalischen Hintergrund und ein großes musikalisches Allgemeinwissen. Wenn er uns also etwas über die Bedeutung von Claps und von der Talkbox in der Westcoast-Musik erzählt, haben seine Aussagen Hand und Fuß. Außerdem hat er ein Talent zum Geschichtenerzähler. TrevBeats hatte wiederum eine sehr spannende Perspektive auf die gesamte Industrie.

Für uns war es zudem sehr wichtig zu erfahren, wie einige der Produzenten konkret ihre Beats programmieren. Es war deswegen toll, dass wir Jelly Roll, Focus oder Battlecat bei ihren kreativen Prozessen über die Schulter schauen konnten.

Studiogeheimnisse

Beat / Wie habt ihr die Produzenten dazu bewegt, ihre Studiogeheimnisse zu verraten?

Felix / Zunächst einmal ist Maxime, der die Interviews in erster Linie geführt hat, ein sehr schlauer Bursche (lacht). Im Ernst: Unsere Ansprechpartner wussten, dass wir extra über den Atlantik geflogen waren, um uns tiefgehend mit ihrer Musik auseinanderzusetzen. Das hat eine Stimmung gegenseitigen Respekts geschaffen. Wir haben uns auch nicht dazu verführen lassen, uns ihrer Gangster-Attitüde zu nähern, sondern haben uns auf die Musik beschränkt. Also war vielleicht bereits durch unsere Fragen klar, dass es uns um ihren Beruf ging. Die meisten dieser Interviews dauerten zwei Stunden, und es waren immer wieder einige Glanzlichter dabei. Diese Leute sind, was ihre Talente angeht, sehr selbstbewusst. Und je talentierter sie sind, umso mehr haben sie auch zu geben.

Beat / Hattet ihr den Eindruck, dass die kalifornische Szene sich von der neuen digitalen Musikwelt bedroht fühlt?

Felix / Wir hatten eher das Gefühl, dass ein Gefühl der Enttäuschung darüber herrscht, dass das Publikum gelegentlich nicht die Liebe erkennt, die diese Künstler in ihre Musik stecken. Dass es den Unterschied zu einem kommerziellen Song nicht sieht, der von einem Zyniker ohne Know-how, aber unter Verwendung teurer Werkzeuge produziert wird. Aber alle, mit denen wir gesprochen haben, gehen davon aus, dass diese Entwicklungen sich im Laufe der Zeit verlaufen werden.

Beat / Der Film scheint zu suggerieren, dass viel mehr hinter einem Track steht als nur ein Beat …

Felix / Der Beat ist ganz sicher nur ein Schritt von vielen bei der Produktion eines Songs. Und auch ein Westcoast-Track besteht nicht ausschließlich aus tollen Sessionmusikern. Zwar gibt es so etwas wie eine Formel – auch wenn das nicht für alle, sondern nur für die meisten der dort ansässigen Produzenten gilt –, aber gleichzeitig existieren noch eine Reihe anderer Faktoren: Das Songwriting, der Hook und die Instrumentalbeiträge, die um das gelegt werden, was bereits im Beat enthalten ist. Und all das hängt ganz individuell vom Künstler und den Produzenten ab. Was wir zeigen, ist, dass Dre, Quik und andere einem ganz eigenen Konzept folgen, das da lautet: „Ich mache Musik. Aber wenn ich eine Basslinie in meinem Kopf habe, dann brauche ich einen echten Musiker, der sie auf einem echten Instrument spielt. Sie wird dann besser und musikalischer sein, als wenn ich sie auf einem Synthesizer nachbaue.“

Beat / Habt ihr das Gefühl, dass ihr durch den Film dem Geheimnis von Hip-Hop näher gekommen seid?

Felix / Es gibt ein amerikanisches Sprichwort: „Man braucht eine ganze Stadt, um ein Kind zu erziehen“. Genauso gilt, dass man eine gesamte Stadt braucht, um einen Song zu schreiben. Es sind dabei immer eine Menge talentierter Leute beteiligt. Und sie sollten idealerweise offen sein für eine Menge verschiedener Genres, von Prog-Rock bis hin zur Oper, von Funk bis Electro.

Die Begegnung zwischen dem Publikum und einem Song ist wie eine Liebesgeschichte: Je wertvoller die beiden Liebenden sind, um so schöner wird die Geschichte sein. Aber sie muss ein Geheimnis bleiben, denn ansonsten werden sich vor deinem Balkon eine Menge falscher Liebhaber tummeln. Sie muss genauso riskant sein, wie jemandem zu sagen, dass du ihn liebst.

von Tobias Fischer

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