Digitale Kultur: Slow Media

Geschrieben von Beat
24.10.2011
13:42 Uhr

Das Netz brachte Musikfans eigentlich genau das, was sie sich immer schon erträumt hatten: alle Musik der Welt auf Knopfdruck – und zwar sofort. Erstaunlicherweise erweist sich diese Realität nun aber gar nicht so himmlisch wie vermutet: Immer mehr Hörer vermissen eine Perspektive und kapitulieren angesichts einer Flut an Klängen. In einer neuen Bewegung suchen die Enttäuschten nun nach Hoffnung: „Slow Media“ richtet sich auf den bewussten Konsum von Kunst, auf eine sinnliche Erfahrung sowie auf Formate, die man bereits tot geglaubt hatte.

(Bild: www.beat.de)

Slow Media, also langsame Medien – bei diesen Worten denkt man zunächst an die Frühzeit des Computerzeitalters, an C64 und Datasette, an 28-k-Modems und die Prä-MP3-Gesellschaft. Oder daran, dass das Internet mal wieder streikt, während man sich die aktuelle Staffel von „24“ herunterlädt. Für den amerikanischen Regisseur Kirby Ferguson hat der Begriff „Slow Media“ jedoch eine weitaus tiefere Bedeutung. Anfang des Jahres stutze Ferguson kurzentschlossen einen Monat lang seinen Medienkonsum zurecht: Browsen im Web und E-Mail-Korrespondenz wurden gänzlich gestrichen, und Fernsehen war ebenso tabu, wie soziale Medien wie Twitter oder Facebook. Virtuelle Kommunikation und digitaler Konsum wurden durch Papier und Bleistift, durch Radio und Bücher ersetzt. Das Ergebnis des Experiments laut Ferguson: „Ich fühle mich ausgeglichen und erfrischt. Ich habe mehr gelesen als sonst, und es ist mir sogar gelungen, meinen Kopf für zwanzig Sekunden am Stück komplett freizubekommen. Das klingt zwar nicht besonders beeindruckend, aber versuche Sie sollten es auch einmal versuchen!“

Gehirn-Mansch

Das Erstaunliche: Immer mehr Leute wollen es tatsächlich versuchen. Der FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher weist in seinem Buch „Payback“ auf die Gefahren konstanten Multitaskings auf den menschlichen Wahrnehmungs- und Denkapparat hin („Das Internet vermanscht unser Gehirn“). Die Kreativen Sabria David, Jörg Blumtritt und Benedikt Köhler haben im Netz ein vierzehn Punkte umfassendes Slow-Media-Manifest veröffentlicht. Und Jennifer Rauch, Assistenzprofessorin für Journalismus an der Universität von Long Island, führt seit September 2009 einen Blog, in dem sie die einschneidenden Veränderungen, denen unser Leben durch soziale Medien und digitale Technologien unterworfen ist, dokumentiert und hinterfragt. Das erste, was dabei auffällt, ist, dass diese Begriffe ganz offensichtlich für alle Erwähnten etwas gänzlich anderes bedeutet. Während Schirrmacher die aktuelle Diskussion vor allem benutzt, um eine reaktionäre Einstellung zu Printmedien im Allgemeinen und der von ihm innig geliebten Zeitung im Speziellen zu verbreiten, geht es den Manifestlern um eine qualitative Grundsatzerklärung der journalistischen Onlinezunft, von der sie sich hochwertigere Inhalte und eine ansprechendere Präsentation wünschen. Jennifer Rauch stellt wiederum die eigene Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Wenn wir, so Rauch, riesige Berge an komprimierter Musik horten und diese weitestgehend im Hintergrund als Berieselung zu uns nehmen, ändern wir damit nicht nur unsere Beziehung zu diesen Werken, sondern auch die Werke selbst. Für sie und die übrigen Mitglieder der Slow-Media-Gruppe auf Facebook ist Carl Honores Buch „In Praise of Slowness: Challenging the Cult of Speed“ zu einer Art Bibel geworden. Darin schreibt Honores: „In dieser medienüberladenen, datenreichen Zeit haben wir die Kunst des Nichttuns verloren. Langeweile, ein Wort, das es erst seit knapp 150 Jahren gibt, ist eine moderne Erfindung. Sobald uns unsere Stimulantien genommen werden, fangen wir an, Panik zu schieben und verzweifelt nach irgendetwas zu suchen, um die Zeit zu nutzen. Wann hast du zum letzten Mal jemanden gesehen, der im Zug einfach nur aus dem Fenster schaut? Alle sind viel zu sehr damit beschäftigt, die Zeitung zu lesen, Videogames zu spielen, Musik auf ihren iPods zu hören, am Laptop zu arbeiten oder in ihr Handy zu schreien.“

Natürlich beinhalten solche Darstellungen immer auch ein Stück weit Polemik. Doch ist zweifelsfrei innerhalb von knapp zwei Jahrzehnten die Kunst des Verfassens von Briefen verkümmert, das aufmerksame Lesen von Nachrichtenberichten weitgehend von der Bildfläche verschwunden, das konzentrierte Hören eines Albums zur Ausnahme geworden. Die mediale Haltbarkeitsdauer ist in allen Bereichen um ein Vielfaches herabgesunken. Als vor kurzem Berichte über das neue Autechre-Album „Oversteps“ auf Twitter die Runde machten, empfand man das bereits nach einer knappen Viertelstunde als schal. Während die Verteiler dieser Meldungen sich somit einem sekundengetakteten Wettlauf mit den Mitbewerbern ausgesetzt sehen, bei dem schon der Gang zum Kaffeeautomaten zum Verlust einer Schlagzeile führen kann, wird auf der Rezeptionsebene die Vorstellung von „News“ als einem wertvollen Produkt dekonstruiert: Wenn sich Tickermeldungen viral verbreiten und ihr Inhalt sowieso bald jedem bekannt ist, tendiert der monetäre und informelle Wert einer einzelnen Meldung gegen null.

Während die Neunziger somit von einer aufschäumenden Euphorie gegenüber der „schönen neuen Datenwelt“ bestimmt war, drückt sich heute vor allem die Gegenbewegung der Skeptiker und Kritiker in immer bunteren und skurrileren Formen aus. So war der britische Designer Joe Lamantia von den ständigen Twitter-Statusupdates schließlich derart irritiert, dass er einen Gegendienst ins Leben rief: Bei Dawdlr beantworten die Teilnehmer die Frage: „Was machst du gerade, so im Allgemeinen?“ und schicken sie Lamantia auf einer Postkarte zu. Dieser wiederum scannt die Beiträge und stellt sie zweimal im Jahr auf seine Webseite. Das Ergebnis ist manchmal humoristisch, regt regelmäßig zum Nachdenken an und bietet vor allem inspirierende ästhetische Genüsse. In diesen kleinen persönlichen Meldungen wird die Flut an 140-Zeichen-Mitteilungen wieder beherrsch- und vor allem erfahrbar.

Die Tendenz zum Langsamen

Auch in der Musik gibt es verstärkt eine Tendenz zum Langsamen, Analogen, Physischen und Haptischen – und das nicht erst seit der medialen Verbreitung der „Slow“-Bewegung. Bereits seit über zehn Jahren sind originale MPCs und Rhythmuscomputer zu einem Emblem von Credibility geworden und gehen inzwischen bei eBay für nahezu sittenwidrige Summen über den virtuellen Tresen. Die direkte und beinahe primitive Bedienbarkeit dieser Geräte und ihre eingeschränkte Funktionalität zwingen Kreative, sich statt auf das Sichten von Gigabytes an Samples, auf die nackte Essenz zu richten: den kreativen Umgang mit ihrem Instrumentarium. Auch die Rückkehr von Vinyl als Tonträger hat mit einer tiefen Sehnsucht nach einer sinnlichen Bedeutung von Musik zu tun, die über das reine Hörerlebnis hinausgeht. Steven Wilson von der Experimental-Progressive-Rock-Formation „Porcupine Tree“ brachte die Illusion digitaler Kunst in einem Interview kongenial auf den Punkt: „Zu sagen, dass es nur um die Musik geht, wäre das Gleiche, als würde man sich, statt in eine Galerie zu gehen, die Bilder zuhause anhand kleiner JPEG-Datein am Rechner anschauen.“

Auch wachsen allerorten wunderbar entworfene PDF-Magazine aus dem Boden, die bewusst auf eine ästhetische Kombination aus Bild und Text setzen und dem Ideal einer Printzeitschrift im Netz immer näher kommen. Einige Onlinepublikationen verweigern sich wiederum dem Wahn der täglichen Updates: Das kanadische Magazin Textura, eine zuverlässige Quelle für Elektronik und Experimentelles, erscheint wie am Kiosk nur einmal im Monat, das sich eher auf zeitgenössische Komposition ausgerichtete Paris Transatlantic sogar immer nur dann, wenn es den Herausgebern gerade passt. Gerade wegen dieser bewussten Beschränkung auf die Momente, in denen es wirklich etwas zu sagen gibt, haben sich die beiden Postillen zu hochangesehenen Quellen in ihrem jeweiligen Segment entwickelt.

Esel vor Goldsäcken

/p>

Doch es gibt noch fundamentalere Ansätze: In einem etwas holprigen Artikel für den Guardian beschreibt Andrew Martin, dass er sich, angesichts der bei Spotify verfügbaren Masse an Musik, manchmal wie der sprichwörtliche Esel vor den Goldsäcken fühle, schließlich kapituliere und letztendlich sogar weniger Musik konsumiere als vorher. Das Gefühl, ständig gewollt oder ungewollt von Klang umgeben zu sein, ist sogar derart problematisch geworden, dass der Fotograf und Gründer des Labels „Touch“, Jon Wozencroft, inzwischen von einer akustischen Umweltverschmutzung spricht und über eine Art Greenpeace für unsere Ohren nachdenkt. Während es Wozencroft vor allem darum geht, innerhalb dieses Ozeans an frei verfügbarem Klang eine Perspektive zu wahren, bietet der Aktionismus des ehemaligen KLF-Mitglieds Bill Drummond eine breitere Perspektive: Als zunächst begeisterter Freund des MP3-Zeitalters beschlich Drummond zunehmend ein Gefühl der Leere gegenüber neuer Musik, die er für weit mehr als die Abstumpfungserscheinungen eines alternden Musikbegeisterten hielt. Die Allgegenwärtigkeit von Musik führt laut Drummond dazu, dass das Spirituelle der Kunsterfahrung trivialisiert werde. Drummonds Vorschlag: Jedes Jahr am 21. November sollte jeder Mensch einen Tag lang komplett auf Musik verzichten. Auf einer ergreifend einfachen Internetseite stellte er 2007 zum ersten Mal die Eckpunkte seiner Idee vor: „Es werden keine Hymnen gesungen, im Radio läuft keine Musik, iPods werden zuhause gelassen, Rockbands werden nicht rocken“, stand da unter anderem – und wäre er von jemand anderem gekommen, so wäre der Vorschlag vielleicht wie einer unter vielen in der Schublade verschwunden. Angesichts von Drummonds ungebrochenem Status als lebende Popikone aber stieß er auf ungeahnte Resonanz. Die BBC Schottland verbannte tatsächlich einen Tag lang jegliche Musik aus ihrem Programm, einschließlich aller Jingles in der Radiowerbung, und widmete sich stattdessen in langen Diskussionsrunden einem Austausch darüber, worin die Bedeutung von Musik im 21. Jahrhundert bestehen könne. In Linz passte Drummonds Plan wiederum geradezu optimal in die Bemühungen der Verwaltung, akustische Faktoren in die Städteplanung miteinzubeziehen, was in einem großangelegten gemeinsamen Projekt kulminierte.

Natürlich erzürnte oder erheiterte dieser Aktionismus auch so manchen. Die Gründer der Onlineplattform Spotify konterten recht stumpf mit dem oft herbeizitierten Nietzsche-Ruf, eine Welt ohne Musik sei ein Irrtum. Doch muss an der Schwelle der völligen Auflösung des ehemaligen Musikbetriebs auch die Frage gestattet sein, was denn Musik in einer Welt, in der sie nicht mehr erkämpft oder erkauft werden muss, überhaupt noch bedeutet. Gegen einen einzigen Tag „Musikdiät“ im Jahr, um über genau diese Frage nachzudenken, hätte gewiss auch der große Grübler Nietzsche nichts einzuwenden gehabt.

von Tobias Fischer

Cookies helfen uns, bei der Bereitstellung unserer Dienste. Mit der Nutzung erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. Verstanden