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Digitale Kultur: Revolution 3.0

Der Veganismus hat die Musik längst als das führende Weltanschauungsmodell abgelöst. Denn während die Bewegung täglich neue Anhänger und frischen Schwung gewinnt, dümpelt die Musikbranche seit Jahren kraft- und inspirationslos vor sich hin. Dabei könnte sie durchaus eine Menge aus dem Erfolg einer Idee lernen, deren Zeit ganz eindeutig gekommen scheint.

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Laut dem Aktivisten David Graeber sei es ein untrügliches Zeichen einer Revolution, „dass jene, die noch vor ein paar Jahren einen bestimmten Umstand vollkommen ignoriert haben, ihm plötzlich zumindest in ihren Worten Rechnung tragen müssen“. Wenn dem tatsächlich so ist, hat der Veganismus diese revolutionäre Phase längst erreicht. So widmete neulich die Wochenzeitung „Die Zeit“ dem Thema ein riesiges Online-Special, gibt es plötzlich vegane Tonstudios und eröffnen die ersten veganen Hotels, führen themenbezogene Kochbücher die Bestseller- Listen an und schießen unentwegt neue Online-Seiten mit Rezepten, Tipps und Informationen aus dem Boden. Inzwischen hat sich in den USA sogar ein Gericht mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Veganismus möglicherweise eine Religion sei. Auch wenn es sich letztendlich nicht zu einem Ja durchringen konnte, stehen die Zeichen auf einen breiten Durchbruch – mit Israel könnte es möglicherweise schon bald den ersten „veganen Staat“ der Welt geben. Während sich die Anhänger somit von einem Triumph zum nächsten bewegen und die Bewegung täglich neue Anhänger und frischen Schwung gewinnt, dümpelt die Musikbranche schon seit Jahren etwas kraft- und inspirationslos vor sich hin. Dabei könnte sie durchaus eine Menge aus dem Erfolg einer Idee lernen, deren Zeit ganz eindeutig gekommen scheint.

Treffer ins Herz

Wer den Gründen für den Erfolg des Veganismus nachgeht, sollte auf keinen Fall einfache Antworten erwarten. Zu unterschiedlich die Beweggründe für den Wandel, zu vielseitig die praktische Interpretation der Entscheidung. Eine große Rolle für die steigende Popularität spielt aber sicherlich, dass der Schritt in Richtung veganer Ernährung sowohl eine ablehnende Komponente enthält – gegen die Ausbeutung von Tieren, gegen unnötige Tötungen, gegen ein krankes industrielles Produktionssystem – als auch eine affirmative – für einen bewussteren Umgang mit anderen Lebewesen, für eine ökologischere Nahrungsmittelproduktion, für eine gesündere Ernährung. Und entgegen dem klischeebehafteten Bild von vegan Lebenden als dogmatisch und aggressiv, ist der Veganismus vielmehr seit jeher eine sehr inklusive Bewegung. So begründen Anhänger ihre Entscheidung mit so unterschiedlichen Argumenten wie einer Sympathie für Tiere, der Bedrohung durch eine zunehmende Erderwärmung, Sorgen um ihre Gesundheit, Fragen der Spiritualität oder einer anti-korporativen Einstellung. Die Fragen, mit denen sich der Veganismus auseinandersetzt, treffen genau in das Herz der heutigen Zeit und verbinden die unterschiedlichsten Perspektiven, von philosophischen und ethischen bis hin zu ökonomischen und ökologischen, von kulturellen und sozialen bis hin zu medizinischen und technologischen. Wie vielen anderen Weltanschauungen auch sind ihm gewisse Gegensätze nicht fremd: Einerseits ist ein veganes Leben in eine jahrtausendealte Tradition eingebettet, andererseits stellt sie eine scheinbar adäquate Antwort auf moderne Fragestellungen dar. Einerseits lehnt sie das plumpe Nachfrageprinzip liberaler Wirtschaftsmodelle ab, andererseits hat sie ganz genau die Bedeutung von Kundenbedürfnissen und Marketing begriffen. Und dennoch liefern die vom Veganismus vermittelten Antworten keine Widersprüche, sondern spenden vornehmlich Sinn. Die Konsequenzen sind bemerkenswert: Beim Veganismus handelt es sich um eine der wenigen Bewegungen, die aus eigener Kraft und ohne aufwendige PR-Kampagnen Anhänger generieren, die althergebrachte Einstellungen und Lösungen ständig in Erklärungsnot bringen. Man könnte sogar sagen: Nichts sagt heute mehr über uns aus, als die Entscheidung, vegan oder nicht vegan zu leben. Das freilich war genau die Position, die noch bis in die 90er hinein die Musik innehatte. Seitdem hat sie viel von diesem ursprünglichen Bedeutungsgehalt verloren. Da praktisch alle Musik kostenlos – oder nahezu umsonst – verfügbar ist, bedeutet die Entscheidung für oder gegen sie im Grunde genommen nichts mehr. Nicht einmal eine besonders intensive Beschäftigung mit Musik bietet heute noch signifikante Differenzierungsmöglichkeiten und sogar die Entscheidung darüber WAS wir hören, sagt nur noch recht wenig darüber aus, wer wir sind. Wenn Heino Metal-Lieder covert, Techno im Konzertsaal angekommen ist und es inzwischen als schick gilt, jedem nur erdenklichen Musikstil zumindest etwas abgewinnen zu können, bleibt nur noch wenig identitätsstiftendes Potenzial übrig. Und in noch einer Hinsicht haben die letzten drei Dekaden die Position der Musik gegenüber anderen Kunstformen geschwächt. Mit der Popularisierung von Walkman, Discman, MP3-Spielern und der dauerhaften Abschottung durch Kopfhörer und Ohrstöpsel, vor allem aber durch den Schwund kleiner, persönlicher Plattenläden ist das Hören zu einer isolierten, zurückgezogenen Aktivität geworden, ohne einen tieferen Bezug zu der Welt, in der wir leben. Während Musiker noch darüber rätseln, wie sie eine „Community“ um ihre Sounds herum basteln könnten und sich um Likes ihrer Facebook-Seite bemühen, sitzt der Veganer schon über einer ei- und käsefreien Pizza und tauscht sich mit seinen „echten“ Freunden und Bekannten aus. Wie gravierend dieser Unterschied in der Praxis ist, lässt sich anhand der demografischen Entwicklungen im Berliner Stadtteil Neukölln trefflich beobachten: Lange gab es weit und breit gerade einmal ein einziges veganes Café. Dann kam ein italienisch angehauchtes Restaurant dazu, die veganen Menüpunkte in Cafés und Bistros nahmen zu, ein veganer Supermarkt öffnete die Türen und die Dichte an veganer Gastronomie wurde zu einem Argument, in die Gegend zu ziehen. Wann haben die Künste zuletzt eine solche Entwicklung verursacht?

Praktische Tendenzen

Freilich: Musik befindet sich an einem gänzlichen anderen Punkt seiner Entwicklungskurve. Es wird allzu oft vergessen, dass der moderne Veganismus erst seit knapp sechzig Jahren existiert und erst 1944 von dem Engländer Donald Watson geprägt wurde. Weil dieser den vollkommenen Verzicht auf tierische Produkte als die logische Schlussfolgerung aus einer vegetarischen Lebensweise hielt, nahm er schlicht den Anfang und das Ende des englischen Wortes „vegetarian“ und bildete damit ein neues. Damit befindet sich das Konzept heute im Grunde genommen noch in den Kinderschuhen, was steilere Wachstumstendenzen möglich macht als auf dem weitgehend saturierten Musikmarkt. Dennoch lassen sich durchaus einige Aspekte nennen, welche Musiker gewinnbringend aus dem Veganismus ableiten können:

Es wird wieder wichtig, Projekte einfach nur aus Begeisterung heraus zu machen. Vor kurzem besuchte ich die westfälische Stadt Münster und entdeckte einen professionell angelegten und komplett kostenlosen „Vegan Guide Münster“. Ganz klar stand dahinter ein professionelles Medienhaus. Doch war die Liebe zur Sache unverkennbar die eigentliche Triebfeder. Genau so etwas wünscht man sich wieder mehr im Musikbereich, in dem sogar im vermeintlichen Underground immer stärker Verkaufsinteressen dominieren.

Physische Treffpunkte sind wichtiger denn je. Der Smallville Records Store in Hamburg beispielsweise dienst als kongeniales Aushängeschild für die Smallville- und Dial-Labels sowie als Achse für die gesamte Hamburger House-Szene. Doch reicht auch schon eine einfache Kneipe aus, um sich mit Kollegen und anderen Kreativen auszutauschen. Ohne diese Locations bleibt das Gerede von einer „Szene“ zumeist nur eine vage Idee.

Nachdem sie aus teilweise durchaus komplexen Gründen den Schritt getan haben, interessieren sich die meisten Veganer vor allem für sehr praktische Fragen: Die Online-Seite Deutschland is(s)t vegan bietet Produktempfehlungen und grundlegende Informationen, Produkte wie veganer Käse oder Eiersatz decken konkrete Bedürfnisse beim Kochen. Man kann auch als Musiker, ohne die eigene kreative Arbeit zu kompromittieren, die eigenen Hörer nach ihren Wünschen befragen – statt ihnen täglich hundert Tweets über das neue Album um die Ohren zu hauen. Hätten sie gerne die letzten EPs zusammengefasst auf einer CD? Remixe von ganz bestimmten Künstlern? Längere Edits?

Vor allem aber sollte man dafür sorgen, dass Musik dem Hörer wieder das Gefühl gibt, ein Stück von sich selbst in ihr wiederzufinden. Auch wenn es absurd erscheinen mag, kann es durchaus sinnvoll sein, lieber einen Stammtisch zu organisieren, in dem man sich mit anderen Produzenten aus der gleichen Stadt austauscht, als viel Zeit in Facebook und Twitter zu investieren. Statt über iTunes kann man durchaus seine Produktionen auf der eigenen Webseite verkaufen oder über ausgewählte (digitale) Plattenläden, damit der Weg zur eigenen Musik wieder eine aktivere Tätigkeit wird. Das mag wie ein Schritt zurück aussehen und nach einer unmöglichen Aufgabe. Doch haben es einige Künstler bereits vorgemacht. Der englische Ambient- Musiker Richard Skelton lebt von wunderschön produzierten Box-Sets, die er vornehmlich über seine Homepage verteilt. Und der Produzent Stephan Laubner alias STL verkauft seine Musik nahezu ausschließlich aus eigener Hand sowie über ein kleines aber persönliches Netzwerk aus Plattenläden. Die Zeit der Revolutionen mag in der Musik für den Augenblick vorbei sein. Ignorieren aber sollte sie keiner.

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