Digitale Kultur: Preislose Pralinen

Geschrieben von Beat
02.11.2011
19:00 Uhr

Kostenlos klingt meist nach kaltem Kalkül: Vom Zeitungsabo bis zum Kaffee beim Frisör steht der Preis Null traditionell für Mogelpackungen, bei denen die Kosten lediglich über Umwege auf den Kunden abgewälzt werden. Das wird sich ändern, behauptet nun der amerikanische Marketing-Guru Chris Anderson. „Kostenlos“ hat sich grundlegend gewandelt – und wird in Zukunft immer mehr zu einem festen Bestandteil erfolgsversprechender Geschäftsstrategien werden.

(Bild: www.beat.de)

Gerade einmal vier Jahre sind seit Chris Andersons „The Long Tail“ verstrichen, doch fühlt es sich bereits so an, als sei man inzwischen in ein neues Zeitalter eingetreten. Andersons Bestseller propagierte seinerzeit eine wagemutige These: Dass sich in einer digitalen Welt mit einer Masse eigentlich wenig profitabler Produkte ein äußerst lukratives Geschäftsmodell aufbauen lasse. Er musste sich nicht lange nach einem passenden Beispiel umsehen: Der Erlös aus den minimalen Verkäufen von Millionen von Tracks ergibt für iTunes unter dem Strich eine gigantische Summe, die all diejenigen Lügen straft, die in der Zersplitterung der Musikszene ihren Sargnagel vermuten. Auch wenn sie von den wenigsten richtig verstanden wurde, gilt die „Long Tail Theory“ gemeinhin noch heute als erste konkrete Heilsbotschaft in einer von schlechten Nachrichten erschütterten digitalen Welt. Und dank seiner mit soliden Argumenten untermauerten These wurde Anderson zum möglicherweise medienwirksamsten Guru des Web 2.0. Eines hatte er indes in seinem Buch stillschweigend vorausgesetzt: „Du kannst nur dann unendlich viel Lagerplatz haben, wenn das Lager nichts mehr kostet.“ Damit stellte sich gleichsam eine neue Frage: Wie kann es sein, dass Speicherplatz inzwischen umsonst ist? Oder, praktischer gefragt: Wieso kann eine Firma wie Apple ihre Serveraufwendungen praktisch vernachlässigen, während überall in Deutschland ein Plattenladen nach dem anderen geschlossen wird? Das Thema für ein neues Buch war geboren.

Diffuse Mikronutzen

Das Ergebnis heißt „Free – The Future of a Radical Price“ (Deutscher Titel: „Kostenlos: Geschäftsmodelle für die Herausforderungen des Internets, Campus Verlag, 39,90 Euro“) und ist, ganz im Sinne seiner Benennung, noch radikaler und umstrittener ausgefallen als sein Vorgänger. Was nicht nur daran liegt, dass Anderson in der ersten Auflage ganze Textstellen aus Wikipedia und anderen urheberrechtlich geschützten Quellen übernahm, ohne sie offen als solche auszuweisen (aus Unachtsamkeit, wie er selbst sagt, aus frecher Ignoranz, wie seine Kritiker behaupten). Spannend ist „Free“ vor allem, weil Anderson nicht nur ein Talent dafür besitzt, komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge leicht verständlich und ohne mathematische Formeln auf den Punkt zu bringen, sondern seine tollkühnen Gedanken in ihrer ganzen Konsequenz zu Ende spinnt. Tausend fantastische Klischees über die Zukunft der Welt – und alle wahr! Die übersichtlichen Geschäftsmodelle von heute, so Anderson, werden von einer schier unendlichen Vielfalt neuer Varianten abgelöst. Wir bewegen uns in unvorstellbarem Tempo auf eine Welt zu, in der Inhalte und Ideen letztendlich kostenlos sein werden. Milliarden von direkt zuordenbarem monetären Wert werden vernichtet und auf eine Vielzahl diffuser Mikronutzen umverteilt. Und es gibt rein gar nichts, was wir dagegen tun können.

Altes Kostenlos, neues Kostenlos

Während „kostenlos“ im allgemeinen Sprachgebrauch noch stets recht undifferenziert verwendet wird, ganz gemäß dem Motto „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“, nimmt Anderson zunächst einmal eine qualitative Unterscheidung zwischen „altem“ und „neuem Kostenlos“ vor. Für Ersteres fährt er zwei Beispiele aus der Vergangenheit auf: Die Gelatinemarke „Jell-O“ (ein vielseitig verwendbares Wackelpuddingpulver) wurde in den USA erst dann zur Erfolgsstory, als man begann, erklärende Kochbücher mit Jell-O-Rezepten zu verteilen. Und King Gillette stieg zum König der glatten Männerwange auf, indem er Proben seiner revolutionären Rasierklingen jahrelang praktisch allem beilegte, was sich größentechnisch dazu eignete. In beiden Fällen diente „Gratis“ als clevere Marketingmaßnahme für das eigentliche, kostenpflichtige Produkt. Firmen des digitalen Zeitalters kommen verblüffenderweise gänzlich ohne diesen doppelten Boden aus: Google hat ein weltumspannendes Imperium auf vollwertigen, aber komplett kostenlosen Softwarelösungen, einschließlich eines Online-Office-Pakets, Programmen zur Fotospeicherung (Flickr) und -bearbeitung (Picnick) sowie des YouTube-Videodienstes aufgebaut, derer man sich im Extremfall ein Leben lang bedienen kann, ohne jemals dafür bezahlen zu müssen. Trotzdem ist Google heute mehr wert, als die gesamte Automobilindustrie Amerikas. Das Geschäftsmodell des Unternehmens besteht darin, zunächst massenhaft Produkte zu verschenken und einen riesigen potenziellen Kundenstamm aufzubauen, um anschließend mit ganz wenigen einzigartigen Dienstleistungen, wie dem berühmten AdSense, sehr viel Geld zu verdienen. Darin liegt, gegenüber der Vergangenheit, ein drastischer qualitativer Unterschied, der neue Fragen aufwirft und radikale Herausforderungen stellt.

Unwiderstehlich attraktiv

Zunächst muss aber geklärt werden, wieso dieses neue Kostenlos überhaupt so ungemein attraktiv ist. Warum, um einmal in die aktuelle Debatte einzusteigen, erfährt beispielsweise die Musikindustrie einen derart akuten „Wertverfall“? Erfahrungen aus der Verhaltenspsychologie liefern hier aufschlussreiche Antworten: Zum einen sind Menschen, möglicherweise aus evolutionären Gründen, darauf gepolt, Verluste zu vermeiden und werden komplett risikofreie Lösungen immer vorziehen. Zum Zweiten nimmt einem ein kostenloses Produkt sogar die minimalste Entscheidung darüber ab, ob sich ein Kauf lohnt oder nicht. In seinem Buch „Predictably Irrational“ demonstriert Dan Ariel ein Beispiel für ein scheinbar paradoxes Experiment. In einer ersten Runde konnten Probanden aus einer Edelpraline für 15 Cent und einem Standard-Supermarkt-Schokobonbon für einen Cent wählen. Der größte Teil von ihnen entschied sich, wohl angesichts des besseren Geschmacks und der geringen Differenz, für das teure Angebot. Anschließend senkte Ariel den Preis beider um einen Cent ab. Die Differenz blieb somit gleich, nur kostete die Edelpraline nun 14 Cent und das Supermarkt-Toffee nichts. Das Ergebnis des zweiten Experiments: Fast alle entschieden sich für die Null-Cent-Variante. Kostenlos löst somit einen irrationalen Hormonschub im Gehirn aus und macht jedes Produkt schlagartig bedeutend attraktiver. Das ist die hinter „Free“ stehende Psychologie, der sich Anbieter in einem digitalen Zeitalter stellen müssen.

Es lohnt sich abzurunden

Unabhängig von dieser Erkenntnis widerspricht das Verschenken von Gütern allerdings noch immer dem gesunden Menschenverstand. Dass sich hier ungeahnte Möglichkeiten auftun, liegt an einer drastischen wirtschaftlichen Verschiebung. Dank einer jährlichen Verdopplung ihrer Kapazität sind umgekehrt die Kosten von Transistoren und Prozessoren alle zwölf Monate um die Hälfte gefallen und inzwischen vernachlässigbar. Gleichermaßen bewegen sich auch alle für die Verbreitung von Informationen relevanten Kosten wie Speicherplatz, Serverkosten und Internetverbindungen unaufhaltsam auf den Wert null zu. Tatsächlich entstehen zwar hier noch geringe Kosten, doch lohnt es sich wegen der genannten psychologischen Vorteile von Kostenlos, diese auszublenden und das eigene Geschäftsmodell stattdessen auf einer anderen, angrenzenden Dienstleistung aufzubauen. Eine weitere Entwicklung ist hierbei von entscheidender Bedeutung: Immer mehr Produkte bestehen heutzutage zum größten Teil aus Ideen. Dieser Ideenanteil aber, unabhängig davon, wie viel immateriellen Wert man ihm beimessen mag, ist bei der Vervielfältigung irrelevant. Presst man eine weitere CD, liegen die Kosten vielleicht noch bei einem Euro. Bietet man aber digitale Files an, kostet jedes weitere „Exemplar“ bereits so gut wie nichts mehr. „Das Web ist zum Land des Kostenlosen geworden“, so Anderson, „und zwar nicht aus ideologischen Erwägungen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Der Preis ist auf die marginalen Kosten gefallen. Und online sind die marginalen Kosten so nahe bei null, dass es sich lohnt, abzurunden.“

Brutale Konsequenzen

Anderson geht bei der Auslegung der Konsequenzen seiner Theorie mit brutaler Stringenz vor: Die marginalen Kosten von Informationen – und dazu gehören unter anderem journalistische Beiträge, Musik und Literatur – liegen bei null, also kann man mit ihnen auf lange Sicht auch kein Einkommen mehr generieren. Kostenlos verwandelt Milliarden-Dollar-Industrien in Millionen-Dollar-Industrien und verteile einen großen Nutzen auf viele, kleine Einzelgewinne. So biete die freie Verfügbarkeit des Wikipedia-Wissens oder der LEO-Wörterbuch-Datenbank einer riesigen Zahl von Kleinunternehmern Chancen für neue Geschäftsmodelle.

„Free“ ist inzwischen von vielen angegriffen worden, vor allem weil es, außer wenigen Fallbeispielen, keine fassbare Lösungsmethodik aufzeigt. Vielmehr überlässt Anderson diesen Teil der Geschichte lieber seinen Lesern: „Jeder Markt folgt seinen eigenen Gesetzen. (...) Damit Geld zu verdienen (...) ist eine Frage ständigen Experimentierens und kreativen Denkens.“ Das mag nicht sonderlich hilfreich klingen, doch ging es Anderson an dieser Stelle auch gar nicht darum, dem Erfindergeist des Marktes vorzugreifen. Seine Behauptung besteht auch keineswegs darin, „Free“ werde das traditionelle Wirtschaftsdenken vollständig ausrotten. Vielmehr wird das „neue Kostenlos“ zu einer weiteren Variante in einem breiten Portfolio aus Angeboten werden. Tatsächlich hat eine alte Weisheit nichts von ihrer Relevanz verloren: Dass jedes frei verfügbare Gut (Informationen) wieder eine neue Knappheit schafft (die Zeit, sie zu organisieren und konsumieren). Und daraus ergeben sich eben auch wieder neue Aufgaben – und genug Stoff für ein neues Buch.

Weiterlesen:

Lawrence Lessig

Freie Kultur: Wesen und Zukunft der Kreativität

304 Seite, 24,90 Euro

ISBN: 978-3937514154

Open Source Press

www.opensourcepress.de

von Tobias Fischer

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