Digitale Kultur: MySpace

Geschrieben von Beat
04.07.2011
15:20 Uhr

MySpace hat ein Stückchen Musikgeschichte mitgeschrieben. Doch nach einer Reihe fragwürdiger Entscheidungen und Fehleinschätzungen scheint das ehemals größte soziale Netzwerk der Welt nun dem Untergang geweiht. Das sind schlechte Nachrichten für viele Bands, die über die Plattform ein dichtes Netzwerk aus Kontakten aufgebaut und gewinnbringend für sich eingesetzt haben. Doch auch wenn die guten Zeiten wohl endgültig der Vergangenheit angehören: Aus den Fehlern lassen sich wichtige Erkenntnisse für die Zukunft gewinnen.

(Bild: beat.de)

Der 27. Oktober 2010, da waren sich alle Analysten und Experten einig, werde der Tag sein, an dem die Talfahrt von MySpace endet. Es gab eine strategische Neuausrichtung. Es gab das Versprechen, aus Fehlern gelernt zu haben. Vor allem aber gab es ein Redesign, das aus einer schleppend langsamen, Spam-verseuchten, rückwärtsgerichteten und vollkommen unübersichtlichen Seite ein modernes, vielseitiges Entertainment-Center machen sollte. Noch am selben Tag berichtete das Online-Magazin Techn.Fortune, dass man „die Kehrtwende geschafft“ habe. Ein gewisser Jason Brush, dessen Berufsbezeichnung „Executive Vice President of user experience design“ sich spannender liest als der eigentliche Artikel zum Thema, fand einige anerkennende Worte: „Mir gefällt, was sie getan haben. Der präziser herausgearbeitete Fokus hilft ihnen, sich gegen Twitter und Facebook abzugrenzen. Die Leute brauchen keinen dritten Mitbewerber um die Krone der sozialen Netzwerke. Aber als „Entertainment-Magazin“ funktioniert es.“ Alleine schon die Aussage, MySpace sei in Sachen Social Networking – eine Kategorie, welche die Seite immerhin praktisch eigenhändig aus der Taufe gehoben hatte – nicht mehr konkurrenzfähig, machte indes den Ernst der Lage deutlich. Schon fünf Minuten nach der hoffnungsfrohen Ankündigung stellte sich dann heraus, dass die Analysten und Experten offensichtlich das Wichtigste vergessen hatten: sich die Seite einmal anzusehen. Nutzer, die sich in das neue Profil einloggten, wurden wie immer von den bereits gefürchteten, quälenden Werbebannern erschlagen, und selbst auf nagelneuen Laptops ließ die Geschwindigkeit der Präsenz so manches DSL-Modem wie einen Formel-1-Wagen erscheinen. Wenn etwas konsequent war an einer der desaströsesten Verschlimmbesserungen der Online-Geschichte, dann lediglich, dass sich die Betreiber der Plattform erneut zu allerletzt um diejenigen gekümmert hatten, die gemeinhin als das Kapital von Web 2.0 gehandelt werden: ihre Nutzer.

Schlechter Groschenroman

Die Geschichte von MySpace liest sich tatsächlich wie ein schlechter Groschenroman – zumindest aus der Perspektive von Julia Angwin in ihrem Buch „Stealing MySpace“: Im Jahr 2002 entdecken Mitarbeiter der Firma eUniverse ein neues Online-Netzwerk namens Friendster. Die Seite hat ganz eindeutig Potenzial, wirkt aber leicht unpersönlich und so entscheidet sich Brad Greenspan, der Geschäftsführer von eUniverse, mit einem Team aus unter anderem Chris DeWolfe und Tom Anderson, die kurz darauf eine Schlüsselrolle in der Weiterentwicklung einnehmen werden, ein ähnliches Projekt auf die Beine zu stellen. Innerhalb von weniger als zwei Wochen erstellt man, was auf den ersten (und durchaus auch zweiten Blick) wie eine glatte Kopie von Friendster aussieht und es im Wesentlichen auch ist: Eine bestechend simple Oberfläche, durch die man sich online „treffen“ und austauschen kann. Es gibt jedoch auch einige entscheidende Unterschiede zwischen Friendster und der neuen Seite, die man auf den Namen MySpace tauft, und über die Genialität einiger dieser Gedanken wurden bereits ganze Abhandlungen geschrieben: Profile können durch einfache HTML-Operationen personalisiert werden, man bemüht sich aktiv um Stars und vor allem um einen höheren Frauenanteil als auf Friendster. Und damit jeder neue Nutzer auch gleich zu Anfang wenigstens einen Freund hat, legt Andersen ein Profil an, das automatisch mit jedem Neuzugang verknüpft wird. Sein verwackeltes Webcambild wird rasch zu einem der bekanntesten Fotos im gesamten Netz, er selbst zu einem Sympathieträger und Aushängeschild für das Projekt. Die Taktik geht auf: Innerhalb von gerade einmal vier Jahren rollt MySpace den Markt auf und akquiriert eine Datenbank von über hundert Millionen Nutzern. Jeder ist plötzlich auf MySpace vertreten, vom Hausmann bis zur Geschäftsfrau und vom berühmten Filmregisseur zum Amateurfotografen. Was nur wenige wissen: Tom ist in Wahrheit ein eher zurückgezogener Typ, der von sich selbst immer wieder sagte, er sei „alles andere als ein beliebter Kerl“. Immer wieder gibt es Gerüchte, Tom sei in Wirklichkeit auch einige Jahre älter als in seiner offiziellen Biographie – keine gänzlich unwesentliche Hilfe beim Ansprechen eines jungen Publikums.

Laut dem Journalisten Trent Lapinski handelte es sich bei eUniverse sowie ihrer Mutterfirma Intermix im weitesten Sinne um Firmen, die sich mit Spam beschäftigten und deren Mitarbeiter unzählige E-Mail-Adressen, sprich direkte Kontakte aus ihren Tätigkeiten mit einbrachten. Die natürlichen Partner dieser Leute waren niemals Künstler oder kleine Leute, sondern vielmehr riesige Geschäftskonglomerate, die sich nach dem verlorengegangen und einst so übersichtlichen Massenmarketing der Achtzigerjahre sehnten. Man muss sich nicht darüber wundern, wenn einem heute auf MySpace Pop-Ups, Banner und quer über den Bildschirm rasenden Filmtrailer entgegenschlagen. Denn der originäre Grund für die Gründung der Seite, so Lapinski, besteht genau darin, diesen Werbemedien eine Plattform zu bieten. Und dass die „User Experience“, wie es wohl Jason Brush ausdrücken würde, zu wünschen lässt, kann man schlicht darauf zurückführen, dass keiner der Verantwortlichen mit Nutzern im eigentlichen Sinn des Wortes je Erfahrungen gemacht hatte.

Nun können auch aus zwielichtigen Geschäftsgebaren aufschlussreiche Erkenntnisse erwachsen und im Fall von MySpace trifft dies auf jeden Fall zu. Man muss der Seite attestieren, dass es ihr als eine der wenigen gelungen ist, auf einem hart umkämpften Markt im Netz Geld zu verdienen. 2006, am Höhepunkt des eigenen Erfolgs angelangt, vereinbarte man mit dem Suchmaschinengiganten Google ein Abkommen, dass MySpace für die nächsten vier Jahre ein gesichertes Einkommen von 900 Millionen Dollar garantierte. Als Rupert Murdochs NewsCorp 2008 das Unternehmen für 580 Millionen Dollar aufkaufte, schien der britische Medienmogul nach praktisch einhelliger Meinung damit einen Treffer gelandet zu haben: In einem Universum aus zersplitterten Plattformen und Blogs gab die Integration von Nachrichten und Entertainment auf einer zentralen Basis unter Einbeziehung einer Social-Media-Komponente ein starkes Bild ab. Und auch wenn sich die Lage seitdem drastisch geändert hat, man praktisch das gesamte Personal des chinesischen Ablegers und im Januar 2011 die Hälfte der amerikanischen und deutschen Gesamtbelegschaft entließ, wurde der Google-Deal, wenngleich unter (sehr wahrscheinlich) weniger günstigen Konditionen verlängert. Damit stellt MySpace nicht nur im Hinblick auf seine Beziehung zu den eigenen Nutzern einen Gegenentwurf zu Facebook dar. Denn während Mark Zuckerberg stets die Parole ausgegeben hat, um jeden Preis Mitglieder gewinnen zu wollen, suggeriert der finanzielle Erfolg und imagetechnische Absturz von MySpace, dass irgendwo in der Balance zwischen ungezügeltem Wachstum und einer soliden finanziellen Basis das funktionierende Geschäftsmodell der Zukunft liegt.

Berauschende Gefühle

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Und man muss es doch auch einmal aussprechen dürfen: Als man sich als Band noch vor wenigen Jahren den ersten eigenen MySpace-Account anlegte, hatte man schon rasch vergessen, wie mühsam und unkomfortabel der Weg dorthin gewesen war. Dank des Portals hatte man eine eigene Homepage, hohe Suchmaschinenrankings sowie die Möglichkeit mit Tausenden von Kollegen und noch bedeutend mehr Hörern und potenziellen Käufern in Kontakt zu treten. Es war ein berauschendes Gefühl, sich einfach nur von einem Profil zum nächsten durchzuklicken und dabei die unvorstellbare Vielfältigkeit und Globalität von Kreativität nicht nur theoretisch zu erahnen, sondern sehen, spüren und vor allem natürlich hören zu können. Musik- und Medienexperte Andrew Dubber betonte auf seiner inzwischen weitgehend eingestellten Seite New-Music-Strategies, dass der interaktive Aspekt hinter diesem Element immer schon zurücktrat, sogar zu einem Zeitpunkt, als die öffentliche Meinung noch in eine andere Richtung tendierte: „MySpace war niemals Teil der Social-Media-Branche. Es war immer schon vornehmlich eine Seite für Musik. Nur hat das dort bis heute keiner begriffen.“ Aus Wut, Frustration und Enttäuschung über diese mangelnde Einsicht rief er 2009 dazu auf, MySpace noch ein Jahr Zeit zu geben, um die offensichtlichen Missstände zu beheben und sich der Verantwortung und Chance ihrer Monopolposition zu stellen. Als die „Deadline“ abgelaufen war, hatte sich denkbar wenig geändert. Zwar folgten nur wenige tatsächlich unmittelbar seinem Vorschlag eines kollektiven „Quit-MySpace-Day“. Doch der Gedanke hatte sich in ihrem Bewusstsein eingenistet wie ein Virus. Spätestens nach dem 27. Oktober erkannten Musiker und Labels selbst, was die Stunde geschlagen hatte – und der Exodus setzte ein.

Die Gründe für die Flucht sind vielfältiger Natur. Der Loop-Gitarrist und Social-Media-Kenner Marc Stevens indes bringt die Angelegenheit trefflich auf den Punkt: „Bei MySpace sieht man doch vor allem Bands, die sich gegenseitig anschreien. Es gibt da wirklich sehr wenig richtige Kommunikation. Wenn man so will, ist diese Seite zwar ein sozialer Treffpunkt – ohne dabei aber sozial zu sein.“ Er selbst hat sein Profil behalten, vor allem auch, weil er noch immer regelmäßig von Konzertveranstaltern darauf angesprochen wird. Doch steht für ihn fest, dass wohl jede vergleichbare Seite – und das gilt für die derzeit so populären Twitter und Facebook ebenso – ein inneres Ablaufdatum besitzt. Heute hat jeder Musiker die Auswahl aus einer Vielzahl an Plattformen, die sich viel spezifischer auf seine Bedürfnisse richten, als MySpace das jemals konnte: Bandcamp für den Eigenvertrieb von Musik, Snocap für die Verwaltung digitaler Rechte, Reverbnation für kompetente und maßgeschneiderte Marketing-Lösungen, SoundCloud für die Zusammenarbeit mit anderen Musikern, Remixe und Player, Facebook für die direkte Interaktion mit der eigenen Anhängerschaft. Eines aber haben all diese Seiten, wie Andrew Dubber einmal so richtig betont hat, nicht, wodurch MySpace sich einst in das große Buch der Musikgeschichte eintrug: „Jede verdammte Band auf diesem Planeten.“ Es war ein Pfund, mit dem sich wahrlich hätte wuchern lassen können, eine Basis für die größte und fruchtbarste Musik-Community, welche die Welt jemals gekannt hat. Diese Zeiten indes sind wohl endgültig vorbei – und es sieht nicht danach aus, als ob sie jemals zurückkehren würden.

von Tobias Fischer

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