Digitale Kultur: I Need That Record!

Geschrieben von Beat
23.12.2011
14:31 Uhr

An die Meldungen über das Aussterben der Plattenläden haben wir uns bereits derart gewöhnt, dass wir neue Hiobsbotschaften gar nicht erst groß zur Kenntnis nehmen. Das sollten wir aber. Denn wie Brendan Tollers Film „I Need That Record!“ aufzeigt, ist deren Untergang Teil eines umfassenden Umwälzungsprozesses, bei dem lokale Diversität von einer gleichgeschalteten Massenkultur ersetzt wird. Das Schockierendste dabei: Es gäbe eigentlich durchaus Grund zum Optimismus – wenn die Majors bereit wären, aus ihren Fehlern zu lernen.

(Bild: www.ineedthatrecord.com)

Man hält es kaum für möglich, aber der große Gewinner der digitalen Musikrevolution ist ein Klassiklabel. Das 1987 von Klaus Heymann in Hongkong gegründete Naxos hat sich zu der wohl profitabelsten Firma der Branche entwickelt und fährt bereits seit vielen Jahren eine radikal-visionäre Strategie, die auf einem tiefen Verständnis ihrer Kunden sowie einem gigantischen Katalog basiert. Erstaunlicherweise sind es aber nicht die allseits gehypten Downloads, die das Geschäft antreiben. Vielmehr hat sich 2010 ein Medium als Verkaufsschlager erwiesen, das von vielen bereits für tot erklärt wurde: die gute alte Einzelhandels-CD. Laut Naxos-Eigenaussagen beträgt die Umsatzsteigerung in diesem Jahr – trotz vielfach herbeizitierter Krise und Dauer-Rezession – satte 6 Prozent, und diese Zahl hat durchaus das Potenzial, am Ende des Jahres ins Zweistellige zu wachsen. Dennoch sieht Heymann ein gewichtiges Problem, welches ihm bereits heute zunehmend Kopfschmerzen bereitet: Viele seiner Kunden kaufen ihre CDs weiterhin am liebsten in Plattenläden. Doch gerade diese sind in einen scheinbar unaufhaltsamen Ausrottungsprozess verwickelt. „Der Markt ist da“, so Heymann, „aber es gibt keine Geschäfte!“

Genau um dieses Thema dreht sich Brendan Tollers gerade abgedrehte Dokumentation „I Need That Record!“. Der Auslöser für den Film war die Schließung seines Lieblingsladens „Record Express“ – der Ort, an dem seine musikalische Sozialisation begann. Die anfängliche Trauer schlug in Entschlossenheit um. Toller war nicht vor Ort und bat sofort seinen Vater, mit einer Digicam Aufnahmen zu machen. Sie sollten die Basis für eine ausführliche Abhandlung bilden, welche der harten Wahrheit ins Gesicht sieht. Vier Jahre lang ist Toller von einer Geschäftsaufgabe zur nächsten gereist, hat mit Inhabern, Kunden, Künstlern und Insidern gesprochen. Die oftmals depressive Stimmung, die ihm dabei ins Gesicht schlug, wird in einer bezeichnenden Szene von dem für seine streitbaren Bühnenauftritte berüchtigten Noise-Komponisten Glenn Branca auf den Punkt gebracht. „Sieh dich in meinem Zimmer um“, fordert Branca den Zuschauer auf, „ich besitze eine Menge Bücher. Einige davon sind sehr ungewöhnlich. Aber im Internet spielt das überhaupt keine Rolle. Ganz egal, wie obskur eine CD oder ein Buch ist, du kannst sie im Netz kaufen. Und das auch noch zu einem absurd niedrigen Preis. Damit kann der Einzelhandel niemals konkurrieren. Plattenläden werden nicht wiederkommen. Das ist alles für immer vorbei!“

Gleichschaltung der Musiklandschaft

Dass der Musikeinzelhandel in der Krise steckt, braucht nicht groß betont werden. Gerade in Deutschland muss man inzwischen in Foren recherchieren, um die wenigen noch bestehenden Ladenlokale, die teilweise den geringen Mieten folgend an die Randbereiche der Städte gezogen sind, überhaupt zu finden. Seitens der Inhaber wird zumeist ein latenter Mangel an Leidenschaft für Musik als Hauptgrund für die derzeitige Misere genannt – eine extrem vereinfachte Argumentation, freilich, die Toller nicht ausreicht. Für ihn sind die wirtschaftliche Krise der traditionellen Musikindustrie, der Untergang der Plattenläden und die sowohl monetäre als auch idealistische Wertminderung von Musik als Kulturgut unzertrennlich miteinander verbunden. Dabei ist der Grund in einem Komplex aus Ursachen zu finden, die von einem zentralen Grundthema bestimmt werden: einer vollständigen, zielgerichteten Gleichschaltung der Musiklandschaft.

Hierunter versteht Toller vor allem die Bestrebungen der Major-Label, ihren Erfolg nicht auf organische Vielfalt, sondern auf einige wenige künstlich herangezüchtete Megakünstler zu begründen. „I Need That Record!“ trägt einen Katalog von Problemfeldern zusammen, mit denen sich die Industrie in den letzten Jahrzehnten zunehmend von ihrem Publikum entfremdete:

• Knapp über 50 Prozent aller Radiosender in den USA gehören inzwischen einem einzigen Unternehmen, Clear Channel, und spielen zu beinahe 80 Prozent dieselbe Musik. Lokale und alternative Bands, von denen gerade in den USA viele kleine Plattenläden leben, finden in deren auf Konsens getrimmten Playlisten praktisch nicht mehr statt.

• Der Verkauf von physischen Tonträgern verlagert sich immer mehr in die großen Supermarktketten wie Walmart. Die Preisnachlässe, welche diese Ketten aufgrund ihrer Marktmacht aushandeln können, sind derart massiv, dass kleine Plattenläden ihre Alben lieber dort einkaufen, als sie direkt über Labels und Vertriebe zu beziehen.

• Die Dominanz der auf ein konservatives Publikum ausgerichteten Ketten führt ebenfalls dazu, dass unkonventionelle Musik teilweise seitens der Künstler und Indie-Labels zensiert werden muss, um dort überhaupt erst die Chance zu haben, in den Regalen zu landen.

• Plattenläden und Radiostationen sind auf eine teilweise absurd anmutende Weise miteinander verzahnt. Der Verkauf einer bestimmten Anzahl von Tonträgern in den Plattenläden einer Stadt führt beispielsweise automatisch dazu, dass ein Titel öfter im lokalen Radio gespielt wird. Damit sind Manipulationen Tür und Tor geöffnet.

• Die Repertoirepolitik der Majors wird zunehmend kurzfristiger und gibt Retortenkünstlern den Vorzug vor organisch gewachsenen Bands.

• Inkompetenz: Laut Mike Dress, der als Gründer von Newbury Comics mit Vertretern der unterschiedlichsten Branchen zusammengearbeitet hat, ist das Maß an Unwissen über das eigene Produkt in keiner Branche so augenfällig wie in der Musikindustrie.

Die Folge: Eine ganze Generation potenzieller Musikhörer ist der Industrie weggebrochen. Die Krise der kleinen Plattenläden ist kein Zufall – sie ist das logische Ergebnis einer Kette bewusst fehlgelenkter Entscheidungen.

Gewichtige Folgen

Die Folgen des Plattenladensterbens sind mannigfaltig – und durchaus gewichtiger, als man zunächst denken könnte. Zum einen gehen die Läden als soziale Treffpunkte verloren. Wenn man den Befragten in Tollers Film zuhört, bedeute jede Geschäftsaufgabe den Verlust eines geliebten Ortes, an dem man sich mit Gleichgesinnten treffen, reden und dabei fast nebensächlich Musik kaufen konnte. Des Weiteren bedeutet der Untergang der kleinen Shops eine Aufgabe von regionaler Diversität, einer Verlagerung vom „Lokalen“ hin zu einer überregionalen Massenkultur. Der Forscher Noam Choamsky bezeichnet dies als eine „Atomisierung“ der Gesellschaft, in der jeder nur noch für sich steht und immer weniger den Austausch mit anderen sucht. Damit wird die Frage des Überlebens der Plattenläden, eingebettet in den breiteren Kontext des Kommunalen, zu einem Politikum. Innenstädte, und dies ist etwas, das sich bereits seit Langem auf breiter Front angebahnt hat, verarmen zunehmend, verlieren ihr Gesicht und werden austauschbar: Das Ausbluten steht unmittelbar bevor.

Auch wenn sie von der Politik weitgehend im Stich gelassen werden, sehen Plattenladenbetreiber dennoch Potenzial für die Zukunft – sofern die Labels bereit sind, umzudenken. Einer von vielen interviewten Inhabern legt den Finger in die Wunde: „Ich habe bei den Majors seit Jahren angeregt, ihre Preise so zu senken, dass ich eine CD für 10 US-Dollar ins Regal stellen kann – den Preis, den auch iTunes online verlangt. Dann wollen wir doch mal sehen, ob die Leute sich immer noch für den Download entscheiden! Bei lokalen Bands hat genau dieses Modell auch wunderbar funktioniert. Und trotzdem stößt mein Vorschlag noch heute auf Ablehnung.“ Die Inhaber von Trash Records, einem landesweit bekannten Spezialladen, der 2007 schließen musste, weil der Vermieter aus heiterem Himmel den Vertrag nicht verlängerte, hatten keinen Nerv, noch länger auf Einsicht zu warten. Stattdessen sind sie heute verstärkt mobil unterwegs, stellen sich mit ausgewähltem Vinyl auf einen Uni-Campus und suchen den direkten Dialog mit der Zielgruppe. Toller wiederum sieht die Zeit reif für eine neue Generation von Plattenläden: „Seien wir doch mal ehrlich: Einige der alten Läden waren einfach keine ernstzunehmenden Geschäfte. Sie haben ihre Buchhaltung nicht gut gemacht, sie waren ihren Kunden gegenüber nicht behilflich und sie haben Musik geführt, die keiner haben wollte. Doch ein Wandel steht kurz bevor. Die neuen Läden werden gut sortiert sein. Das Personal wird freundlich sein, es wird eine Menge In-Store-Performances geben und die Betonung wird viel weniger auf den Produkten der Majors liegen. Die Industrie hat sich grundlegend verändert, und jedes Mal, wenn so etwas passiert, sterben die Leute, die an den alten Modellen festhalten, letztlich aus. Es ist ein komplett dysfunktionales System, das immer nur weiter auseinanderfallen wird. Das gibt aber auch Hoffnung für den Aufstieg von neuen, hart arbeitenden Indies. Einige der besten Musik des 20. Jahrhunderts wurde schließlich ebenfalls von Indies wie Atlantik, Elektra, Sun, Chess oder Ork entdeckt.“

Letztendlich ist Tollers Plädoyer gerade deswegen so überzeugend, weil Musik, wie so viele der wirklich wichtigen Dinge im Leben, mit Emotionen und Erinnerungen zu tun hat, die kein noch so komfortables Online-System jemals wird ersetzen können. Ob sich eine zukünftige Generation jemals genauso an den ersten Download erinnern wird, wie die heutige an ihre erste selbst gekaufte LP oder CD? Der Wahnwitz dieser Vorstellung allein sollte allen Verantwortlichen eine Mahnung sein, die Situation endlich ernst zu nehmen.

von Tobias Fischer

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