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Digitale Kultur: I Need That Record!

An die Meldungen über das Aussterben der Plattenläden haben wir uns bereits derart gewöhnt, dass wir neue Hiobsbotschaften gar nicht erst groß zur Kenntnis nehmen. Das sollten wir aber. Denn wie Brendan Tollers Film „I Need That Record!“ aufzeigt, ist deren Untergang Teil eines umfassenden Umwälzungsprozesses, bei dem lokale Diversität von einer gleichgeschalteten Massenkultur ersetzt wird. Das Schockierendste dabei: Es gäbe eigentlich durchaus Grund zum Optimismus – wenn die Majors bereit wären, aus ihren Fehlern zu lernen.

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Man hält es kaum für möglich, aber der große Gewinner der digitalen Musikrevolution ist ein Klassiklabel. Das 1987 von Klaus Heymann in Hongkong gegründete Naxos hat sich zu der wohl profitabelsten Firma der Branche entwickelt und fährt bereits seit vielen Jahren eine radikal-visionäre Strategie, die auf einem tiefen Verständnis ihrer Kunden sowie einem gigantischen Katalog basiert. Erstaunlicherweise sind es aber nicht die allseits gehypten Downloads, die das Geschäft antreiben. Vielmehr hat sich 2010 ein Medium als Verkaufsschlager erwiesen, das von vielen bereits für tot erklärt wurde: die gute alte Einzelhandels-CD. Laut Naxos-Eigenaussagen beträgt die Umsatzsteigerung in diesem Jahr – trotz vielfach herbeizitierter Krise und Dauer-Rezession – satte 6 Prozent, und diese Zahl hat durchaus das Potenzial, am Ende des Jahres ins Zweistellige zu wachsen. Dennoch sieht Heymann ein gewichtiges Problem, welches ihm bereits heute zunehmend Kopfschmerzen bereitet: Viele seiner Kunden kaufen ihre CDs weiterhin am liebsten in Plattenläden. Doch gerade diese sind in einen scheinbar unaufhaltsamen Ausrottungsprozess verwickelt. „Der Markt ist da“, so Heymann, „aber es gibt keine Geschäfte!“

Genau um dieses Thema dreht sich Brendan Tollers gerade abgedrehte Dokumentation „I Need That Record!“. Der Auslöser für den Film war die Schließung seines Lieblingsladens „Record Express“ – der Ort, an dem seine musikalische Sozialisation begann. Die anfängliche Trauer schlug in Entschlossenheit um. Toller war nicht vor Ort und bat sofort seinen Vater, mit einer Digicam Aufnahmen zu machen. Sie sollten die Basis für eine ausführliche Abhandlung bilden, welche der harten Wahrheit ins Gesicht sieht. Vier Jahre lang ist Toller von einer Geschäftsaufgabe zur nächsten gereist, hat mit Inhabern, Kunden, Künstlern und Insidern gesprochen. Die oftmals depressive Stimmung, die ihm dabei ins Gesicht schlug, wird in einer bezeichnenden Szene von dem für seine streitbaren Bühnenauftritte berüchtigten Noise-Komponisten Glenn Branca auf den Punkt gebracht. „Sieh dich in meinem Zimmer um“, fordert Branca den Zuschauer auf, „ich besitze eine Menge Bücher. Einige davon sind sehr ungewöhnlich. Aber im Internet spielt das überhaupt keine Rolle. Ganz egal, wie obskur eine CD oder ein Buch ist, du kannst sie im Netz kaufen. Und das auch noch zu einem absurd niedrigen Preis. Damit kann der Einzelhandel niemals konkurrieren. Plattenläden werden nicht wiederkommen. Das ist alles für immer vorbei!“

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