Digitale Kultur: Ist ein Hit planbar?

Geschrieben von Beat
23.07.2011
13:15 Uhr

In Anlehnung an das menschliche Genom-Projekt versuchen immer mehr Forscher, dem Code der Musik auf die Schliche zu kommen. Das, was Komponisten und Produzenten gern unter vagen Begriffen wie Kreativität und Intuition mystifizieren, soll dabei greif- und nutzbar gemacht werden. Von vielen Künstlern zunächst beschmunzelt, gewinnen die persönliche Radiostation Pandora und das Hitprognose-Werkzeug uPlaya immer mehr professionelle Anhänger. Ist Musik dabei, ihre Magie zu verlieren?

(Bild: www.beat.de)

Auf den ersten Blick hat ein Job bei Pandora viel mit dem eines Callcenter-Agenten gemein: Man trägt den ganzen Tag Kopfhörer, man starrt auf einen Bildschirm und tippt Zahlen ein, man hört zu. Was aber unter den Muscheln stattfindet, hat rein gar nichts mit der allseits um sich greifenden Fließbandtelefonie zu tun: Einen Song nach dem anderen nehmen sich die Mitarbeiter vor, kämpfen sich durch ein Portfolio aus Millionen von Titeln und analysieren deren Eigenschaften nach einem streng vorgegebenen Kriterienkatalog. Mit der Akribie eines Buchhalters klassifizieren sie so die größten Hits aus mehreren Chart-Jahrzehnten sowie Spannendes aus dem Untergrund. Sobald ein Track analysiert worden ist, wandert er in die Datenbank. Das bedeutet, dass er in einer von hundert personalisierten Radiostationen auftauchen könnte, die der Online-Streamer seinen Nutzern zur Verfügung stellt. Und mit jedem neuen Song kommt Tim Westergren seinem Traum einen Schritt näher: die DNA der Musik zu entschlüsseln.

Zielgruppen erreichen

Diese Neugier geht auf eine Frage zurück, die Westergren bereits in seiner Zeit als Musiker und Komponist verfolgte: Wie kann man als Songwriter in einer Welt des kreativen Überflusses seine Zielgruppe erreichen? Als klassisches Push-Medium, das Hörern keinerlei Einfluss auf die vorgefertigten Inhalte bietet, ist traditionelles Radio immer nur für eine kleine Zahl an Musikern eine wirkliche Hilfe. Printmedien müssen sich seit jeher vornehmlich dem Diktum des Massengeschmacks und dem Druck ihrer Werbekunden beugen oder sich auf reine Nischenprodukte richten. Das Internet verwirrt wiederum mit seiner unüberschaubaren Vielfalt und der nahezu vollständigen Abwesenheit von Filtern. Was fehlte, so Westergren, war eine Software, die wie ein guter Freund den eigenen Geschmack kennt und seinem Nutzer sinnvolle Empfehlungen geben kann. Zwar verwenden Online-Händler wie Amazon kollaborative Modelle, die durchaus imstande sind, gelegentlich einen Treffer zu landen, doch hält sich ihr praktischer Nutzen ganz offensichtlich in Grenzen. Worauf sollte sich also ein solches System stützen?

Bei der Beantwortung dieser Frage kommen schließlich rund vierhundert Kriterien zusammen. Jedes einzelne Element eines Songs wird auseinander genommen, erforscht und eingestuft. Gibt es Synkopen im Beat? Einen Swing? Singt ein Mann oder eine Frau? Verwendet sie oder er Vibrato? Liegen bestimmte Effekte auf der E-Gitarre? Neben diesen eher auf Rock und Pop ausgerichteten Faktoren gibt es für andere Stilrichtungen zusätzliche Einstufungen: Beim Jazz gilt es wegen der ausgefeilten Solotechniken beispielsweise noch bedeutend mehr Punkte zu berücksichtigen.

„Musikalisches Genom Projekt“ nennt sich das in Anlehnung an das „Humangenomprojekt“, welches sich 1990 zum Ziel setzte, das Genom des Menschen vollständig zu entschlüsseln. Das musikalische Äquivalent beschäftigt inzwischen mehr als fünfzig Angestellte, die sich täglich darum kümmern, die Datenbank von Pandora mit neuen Einträgen zu füttern. Dabei sorgt ein penibles Qualitätssicherungssystem sowie die musiktheoretische Ausbildung der Mitarbeiter dafür, dass niemand einen Song anders bewertet als der Kollege.

Ein praktischer Test

Obwohl man Pandora inzwischen aufgrund von Lizenzbeschränkungen nicht mehr außerhalb der USA verwenden kann, hatten wir bereits vor einigen Jahren die Gelegenheit, das Prinzip selbst zu testen. Der Nutzer beginnt zunächst damit, dem System einen Song zu nennen, der ihm selbst selbst besonders gut gefällt. Dieser liefert Pandora sozusagen einen sonogenetischen Fingerabdruck und dient als Basis für eine Playliste. Als Reaktion bietet Pandora einen Titel an, der möglichst nahe an diesen Fingerabdruck heranreicht. Durch einen Mausklick kann man entscheiden, ob diese Wahl treffend war oder nicht und somit das eigene Geschmacksprofil genauer umreißen. Nach nur wenigen Klicks und einer Handvoll Songs spuckt das Programm einen immer genauer dem eigenen Geschmack entsprechenden, spannenden und maßgeschneiderten Track nach dem anderen aus, darunter sowohl unbekannte Titel von bekannten Stars als auch unglaubliche Musik von Künstlern, deren Namen man noch nie gehört haben mag. Plötzlich öffnen sich ganze Welten aus Möglichkeiten, und man stellt verblüfft fest, wie viele Musiker es da draußen noch zu entdecken gilt. Dank dieser hohen Trefferquote kann Westergren auch ganz cool Vorwürfe kontern, sein Dienst kannibalisiere die Musikindustrie: „Unsere Statistiken sagen aus, dass 45 Prozent unserer Hörer mehr Musik kaufen als vorher. Nur ein Prozent kauft weniger. Wir setzen monatlich eine Million US-Dollar durch iTunes, Amazon und andere Seiten um – und diese Zahl wächst.“

Dass man mit dem Großhandel derart auf einer Wellenlänge liegt, mag auch daran liegen, dass Westergren bereits in den frühesten Tagen seines Projekts Kontakt zu ihm aufgebaut hat. Denn obwohl Pandora heute gerne als visionäre Erfindung gehandelt wird, hat der sympathische Musikmanager immer ehrlich zugegeben, dass er das Potenzial für seine Idee zunächst vor allem in einem einfachen Empfehlungssystem für Mailorder sah. 2004 erlebte die Firma die erste von inzwischen mehreren lebensbedrohlichen Krisen und wandelte sich eher notgedrungen in eine Internetradio-Plattform. Nachdem man nun einen neuen Tarif für die Nutzung lizenzgeschützter Musik ausgehandelt hat, stehen Westergren und seinem Team alle Türen offen. Als Google seine neue Suchfunktion für Musik ankündigte, war Pandora einer der ersten und wichtigsten Partner, die man sich mit ins Boot holte.

Internationaler Besuch

Obwohl Pandora auf wissenschaftlichen Kriterien aufbaut, verlässt es sich noch immer maßgeblich auf menschliche Fähigkeiten: „Computer sind immer noch nicht zufrieden stellend in der Lage, Attribute von Musik zu erkennen und einzuordnen“, so Westergren.

Das sieht David Meredith von Music Intelligence Solutions ganz anders. Das von ihm und seinem Team vertriebene Produkt uPlaya [2] soll imstande sein, auf der Basis statistischer Methoden und eines genau ausgeklügelten Algorithmus das Hitpotenzial von Songs zu ermitteln. Der spanische Physiker Toni Trios lieferte die Idee für den Dienst, der heute bereits in einschlägigen Branchenbüchern wie „Masters of Songwriting“ als wichtige Erfindung gehandelt wird. Bei Meredith sind täglich internationale Delegationen von Labeln und Künstlern zu Besuch, hungrig, mehr über die Software zu erfahren – inzwischen hat er bereits Gäste aus 170 Ländern empfangen.

Bereitwillig erklärt Meredith die Methode von uPlaya: „Pandora ist ein toller Service, der bei seinen Fans sehr beliebt ist. Der Ansatz ähnelt den frühen Tagen des Internets, als Menschen versuchten, jede Webseite manuell zu katalogisieren. Später jedoch waren Firmen wie Google imstande, dies automatisiert sowohl anspruchsvoller als auch in größerem Maßstab durchzuführen. Uplaya trainiert unsere patentierte Künstliche-Intelligenz-Plattform, um Musik auf der gleichen Wahrnehmungsebene zu analysieren wie das menschliche Gehirn. Diese KI vergleicht den Song mit Millionen anderer im Musikuniversum, um zum einen sein kommerzielles Potenzial zu ermitteln und zum anderen neue, ähnliche Musik zu entdecken. Vor allem kann unser Ansatz jeden Song in allen Sprachen und allen Genres einstufen – vor allem dort, wo man auf dem menschlichen Weg aufgrund der Masse an Material an die eigenen Grenzen stößt. Uplaya aktualisiert zudem wöchentlich seine Datenbank; somit wird das System im Laufe der Zeit immer schlauer.“

Die genauen Erfolgsfaktoren eines Hits verrät Meredith zwar nicht, teilt aber bereitwillig mit, dass es zwar durchaus regionale Unterschiede in der Hörerakzeptanz gibt, aber ebenso viele erstaunliche Übereinstimmungen. Gerade noch war die große koreanische Sendeanstalt SBS Network bei ihm, um eine einstündige Dokumentation über das Projekt zu drehen. Um das System zu testen, hatten die Koreaner verschiedene Songs mitgebracht. Man speiste also die Datenbank mit ihrer Musik und wartete auf die Ergebnisse. Als diese dann vorlagen, waren die Koreaner perplex: Die Genauigkeit der uPlaya-Software war beeindruckend, tatsächlich konnte sie perfekt vorhersagen, welche Tracks ein Hit waren und welche nicht.

Das Ende der Musik?

Läuten diese Meldungen also das Ende der Musik als kreative menschliche Ausdrucksform ein? Wohl eher nicht, denn bemerkenswerterweise scheint ein gewisser Grad an Unvorhersehbarkeit ein entscheidender Erfolgsfaktor zu sein. David Meredith betrachtet seine Software somit weder als Ersatz für menschliche Kreativität noch als einen Faktor, der zu einer Vereinheitlichung der Charts beitragen wird: „Viele der Künstler, die uPlaya verwenden, erzählen uns, dass ihnen die Software dabei geholfen hat, in Sachen Songwriting mehr Experimente einzugehen.“

Genau wie beim Humangenomprojekt hat das Ergebnis also womöglich mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet: „Wenn du einen Hitsong haben willst, musst du immer noch damit anfangen, tolle Musik zu machen“, so Meredith. Da würde sicher auch Tim Westergren nicht widersprechen.

von Tobias Fischer

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