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Zitronenmarkt - Ist Niveaulosigkeit das neue Ideal?

Die aktuelle Medienlandschaft feiert Pop-Musik als die große Kunst unserer Zeit. Damit korrigiert sie einige der elitären Tendenzen der Rock-Generation und beseitigt die Scham, die einen überfällt, wenn man sich in einen Charts-Hit verliebt. Was aber, wenn das Pendel ins Gegenteil ausschlägt – und Niveaulosigkeit zum neuen Ideal verkommt? 

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Die Musikseite Pitchfork ist für ihre ätzenden Kritiken bekannt, für eine gnadenlose Rezensionspolitik, bei der sogar vermeintlich unantastbare Künstler ihr Fett wegkriegen. Um so erstaunter durfte man als Leser somit sein, als das Magazin in einer aktuellen Besprechung anlässlich eines Re-Issues aus den 90ern geradezu euphorische Töne anschlug. Von veritablen Geniestreichen war da die Rede, von atemberaubender Metaphorik in den Texten, von athletischen Riffs und harmonischen Clustern, die zum „Ausdruck kommunaler Trauer“ würden, „welche die Lyrik und musikalischen Strukturen transzendiere“. Während solche sprachlichen Ergüsse üblicherweise für die klassische Hochkultur oder zumindest für Ausnahme-Acts wie Radiohead oder Björk reserviert sind, waren diese Schwärmereien keiner dieser Kategorien zuzuordnen.

Vielmehr bekannte sich das Magazin damit unverblümt als Fan von Mariah Carey's „Daydream“, das 1995 mit 20 Millionen verkaufter Exemplare und Singles wie „Fantasy“ und „One Sweet Day“ die Hitparaden dominierte. Carey ist kein Einzelfall. Längst gehört das Abfeiern von Beyoncé zum guten Ton respektabler Publikationen, wird der Analyse von Taylor Swift's gesellschaftlicher Bedeutung regelmäßig Platz in den Feuilletons führender Medien eingeräumt, wird Kylie Minogue zum „Genie des Pop“ erklärt, finden sich plötzlich Charts-Produktionen in Jahresbestenlisten. Die Zeiten, als solche Paradoxe noch Aufsehen erregten, sind vorbei, die Umkehrung all dessen, was einst unter Kritikern als selbstverständlich galt, ist die neue Normalität. Oder, wie es die New York Times bereits vor drei Jahren treffend formulierte: „Die Musikkritik ist ziemlich seltsam geworden.“

Vom Rockismus zum Popismus

Das Phänomen, dass vermeintlich „leichte Kost“ plötzlich ganz selbstverständlich zum Objekt seriöser Betrachtungen und tiefer Reflexionen wird, lautet auf den Namen „Poptimismus“ oder auch „Popismus“ und das Erreichen seiner dominanten Stellung in der derzeitigen Medienlandschaft stellt den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung dar, die Mitte der 60er begann und unser gesamtes Verständnis über Qualität und Geschmack in der Musik maßgeblich beeinflusst hat. Es kann kaum verwundern, dass es wieder einmal die Beatles waren, die als erste Band eingefahrene Denkmuster hinterfragten [Jones, Steve, ed. (2002). Pop Music and the Press]. Spätestens ab 1964, als die Fab Four ihrer naiven Frühphase entwachsen waren und mit Alben wie „Rubber Soul“ konventionelle Strukturen aufzuweichen begannen, wurde immer mehr Hörern klar, dass die alte Grenze zwischen E- und U-Musik endgültig ausgedient hatte. Es waren auch die Beatles, die 1967 „Sgt Pepper's Lonely Hearts Club Band“ die Differenzierung zwischen Pop und Rock vollzogen. Seit diesem Meilenstein sollten die beiden Begriffe für zwei sich feindlich oder zumindest misstrauisch gegenüberstehende Lager stehen: Die hedonistische, Spaß-orientierte, schnell konsumierte Chartsmusik auf der einen Seite; die tief schürfende, aus Schmerz geborene und sich nur langsam erschließende Rockmusik auf der anderen. Vor dem Durchbruch von Popismus gab es zunächst den Rockismus, der Musiker wie Bruce Springsteen oder die Stones zu rechtmäßigen Nachfolgern klassischer Komponisten wie Mozart oder Beethoven deklarierte und Respekt für das sich rapide entwickelnde Genre einforderte. Dazu bedienten sie sich entweder der Macht des Wortes – wie sie in den philosophisch angehauchten Texten des Rock-Kritikers Greil Marcus zum Tragen kam – oder der klug angewandten Ironie der sogenannten „Consumer Guide“ Rezensionen von Robert Christgau, welche die Substanz und Tiefe eines Albums in Prä-Twitter-ähnlicher Kürze und einfachen Gut/Schlecht-Statements zu fassen versuchte. Spätestens in den 90ern war Rockismus zur dominierenden Kraft in der Musikberichterstattung geworden – passenderweise zu genau dem Zeitpunkt, als die Grunge- und Metal-Bewegung ihren Höhepunkt erreichte und nihilistische, kreativ immens ambitionierte Sounds plötzlich massenkompatibel wurden.

Freilich stellt alleine schon diese immer wieder kritiklos heruntergebetete Darstellung eine extreme Vereinfachung dar, die vom Rockismus ganz gezielt zum Dogma erhoben wurde. Denn in Wahrheit waren die 90er ein Jahrzehnt radikaler Gegensätze, in denen N Sync und die Backstreet Boys gleichermaßen erfolgreich waren wie Nirvana oder Metallica, in denen die Feier des nackten Akustik-Klangs eine Renaissance erlebte und die Elektronik sich im Wochentakt neu erfand. In einer dermaßen vielseitigen Zeit erschien die rockistische Forderung nach Purismus und traditionellen Werten bemerkenswert unpassend. Genau wie Rockismus als Gegenbewegung zur arroganten Haltung der Bildungselite entstanden war, entwickelte sich der Poptimismus als Reaktion auf das zunehmend aggressive Abkanzeln von Charts-Musik. Die ersten Anzeichen dieser Emanzipation sollten nicht lange auf sich warten lassen. Underground-Mags wie das österreichische Skug setzten Kylie-Minogue auf das Cover und die deutsche Ausgabe des Rolling Stone brach eine Lanze für eine Girl-Group wie die All Saints. Inzwischen ist das Pendel allerdings längst in das andere Extrem umgeschlagen. Denjenigen, die zum Beispiel das neue Beyoncé-Album nicht als ein Gottesgeschenk lobpreisten, wurde neulich von dem Journalisten Ernest Baker in einem Artikel für die Seite Grantland ernsthaft empfohlen, nicht dem Album dafür die Schuld geben - sondern dringlichst die eigenen Erwartungen zu hinterfragen.

Schweres Hören

Zunächst einmal ist das Aufblühen des Poptimismus eine feine Sache. Denn jeder, der schon einmal von ihr überwältigt wurde weiss, dass die Intensität und emotionale Tiefe einer perfekten Pop-Single der eines packenden Rock-Songs (oder eines Club-Tracks) um nichts nachsteht. Auch ist keineswegs gesagt, dass Pop definitionsgemäß ein Wegwerfprodukt sein muss, während Rock für die Ewigkeit ist. Zurecht fragt Kelefa Sanneh, eine der frühen Apostel der Popismus-Bewegung, in ihrem bahnbrechenden Essay „The Rap Against Rockism“: „Van Morrison's [von Kritikern über den grünen Klee gelobtes Album] „Into the Music“ ist im selben Jahr erschienen wie „Rapper's Delight“ von der Sugarhill Gang. Welche der beiden Veröffentlichungen hörst du heute öfter?“ Auch erscheint es nur als gesund, wenn die schon immer etwas zweifelhafte Vorstellung eines „guilty pleasure“ - also eines persönlichen Lieblings-Songs, dessen man sich schämen muss – endlich ad acta gelegt wird. Sanneh dazu: „Stell dir vor, du singst zu einem Lied im Radio mit. Machst du dabei ernsthaft die Unterscheidung zwischen „großer Kunst“ und einem „guilty pleasure“? […] Was einen guten Kritiker auszeichnet, ist, dass er ein guter Hörer ist. Das wahre Problem mit Rockismus besteht darin, dass es gutes Hören schwerer macht.“ Wenn wir immer nur auf weltbewegende Augenblicke warten, so Sanneh, könnten wir vielleicht einige der schönsten musikalischen Augenblicke verpassen.

Doch wohnen dieser Euphorie gleichzeitig einige Gefahren inne. Die ursprüngliche Logik des Popismus war, dass auch Pop ein Recht auf seriöse Berichterstattung hat. Heute hingegen wird sie eher auf die Formel reduziert, dass es rein gar keine Qualitätskriterien mehr gibt und jede noch so künstliche Boyband nicht weniger gelten darf als ein Komponist, der sein Handwerk über Jahrzehnte intensiven Studiums immer mehr verfeinert und vertieft hat. Mangels klar erkennbarer Kriterien wird der Markt zum Maßstab, wird Berühmtheit zum entscheidenden Faktor darüber, worüber es zu berichten und was es zu feiern gilt. Wie auch die Vertreter des Popismus zugeben, wird der Anspruch, so viele Tracks wie nur möglich zu verkaufen, im Pop nicht nur akzeptiert, sondern sogar zum Ideal verklärt. Das, was sich gut verkauft, ist auch gut; das, was die Massen bewegt, verdient Respekt; und der Musiker, der Millionen Fans auf Twitter oder Facebook hat, ist ein großer Künstler.

Umgekehrte Mentalität

Die Grenze zwischen Spaß und Zynismus ist allerdings fließend. Wenn Musik nur Spaß bereiten soll, dann werden Aspekte wie Substanz und Tiefe, Nachdenklichkeit und Schmerz automatisch zum Problem und Störfaktor. Aus dieser Warte betrachtet ist das Abfeiern des Pop vor allem eine schlichte Umkehrung der Rock-Philosophie. So beobachtet man eine zunehmende Kritiklosigkeit unter Kritikern, die zunehmend zu „Cheerleadern“ werden und sich aus Angst, nicht verlinkt oder öffentlich gedemütigt zu werden, schlicht nicht mehr trauen, die aktuelle Single eines Superstars abzukanzeln. Wie die Seite Metacritic verrät, lag der Prozentsatz negativer Album-Rezensionen zwischen 2012 und 2016 bei ziemlich genau 0%. Ironischerweise ziehen die beweihräucherten Superstars aus dieser freundliche Geste eine andere, unerwartete Schlussfolgerung – nämlich, dass derart vorhersehbare Rezensionen gänzlich überflüssig sind. Dass Beyonce's „Lemonade“ ohne jegliche PR-Ankündigung veröffentlicht wurde, ist zum Teil zeitgemäße Überraschungstaktik. Zugleich aber offenbart sie auch die Ohnmacht der Medien, die sich, von der Aktion übertölpelt, hechelnd und Speichel leckend darum bemühten, so schnell wie möglich doch noch eine Rezension nachzuschieben.

Das Hauptproblem der aktuellen Pop-Euphorie besteht aber wohl darin, dass sie geradezu zwangsläufig zu ihrer eigenen Groteske werden muss. Denn in gewisser Weise wird der Punkt des Poptimismus um so klarer, um so kommerzieller, austauschbarer und kitschiger die Musik ist, die zum Geniestreich verklärt wird. Dass ausgerechnet das süßliche und unentschlossene „Daydream“ und nicht das wahrhaft interessante Nachfolgewerk „Butterfly“, mit seinen zeitlupenhaft schlurfenden Beats und seiner unwirklichen Stimmung auf Pitchfork idolisiert wird, ist in dieser Hinsicht sicherlich kein Zufall, sondern Kalkül: Popismus führt zum Zitronenmarkt, auf dem sich nur das Grellste, Kitschigste und Unambitionierteste behaupten kann. Das haben die spirituellen Mütter und Väter der Bewegung nie gewollt. Carl Wilson, der als Pionier gilt, setzte sich für sein Buch „Let's Talk About Love“ mit Celine Dion auseinander, einer Sängerin, deren Werk er erklärtermaßen hasste. Statt aber seine eigene Abneigung zur Schau zu stellen, fragte er sich vielmehr, wie es sein könne, dass ein Album, das von jedem anerkannten Experten als unerträglicher Schmalz deklariert wurde, 31 Millionen Exemplare verkaufen konnte. Auf seiner Reise nach Antworten wurde er zwar keineswegs zum Dion-Fan, lernte aber immerhin, seine eigenen Abneigungen besser zu verstehen.

Denn das ist letzten Endes doch die eigentliche Frage, wenn wir uns damit auseinandersetzen, welche Musik wunderbar und welche wertlos ist: wie sie sich mit unseren eigenen Vorurteilen verträgt. Man muss nicht jeden Song zur Hymne verklären, der den Thron der Hitparade erklimmt. Doch es hilft ungemein, beim Hören all die inneren Widerstände aufzubrechen, die rein gar nichts mit der Musik zu tun haben – und die es uns unmöglich machen, das wertzuschätzen, was wir eigentlich lieben könnten.

Dieser Artikel ist in unserer Heft-Ausgabe 147 erschienen.

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