Quelle: https://www.beat.de/news/vier-jahrhunderte-marketing-erfahrung-10052775.html

Autor: Kai-Uwe Heuer

Datum: 14.06.11 - 14:04 Uhr

Vier Jahrhunderte Marketing-Erfahrung

Dass sich klassische Musik in einer Krise befindet, wird kaum noch ernsthaft hinterfragt. Täglich erreichen uns Meldungen über sinkende Umsatzzahlen, Orchesterauflösungen und Subventionsstreichungen. Dabei gibt es nur wenige Branchen, die einen derart konsequenten Umstrukturierungsprozess durchlaufen haben. Ihre obersten Gebote: Die Wünsche des Kunden erkennen, darauf passende Pakete schnüren und sie möglichst differenziert anbieten. von Tobias Fischer

Man sollte meinen, dass Klaus Heymann sich Sorgen machen müsste. Bereits seit Jahren scheibt ein Großteil der Albumprojekte seiner Plattenfirma Naxos laut Eigenaussagen rote Zahlen. Auch Downloads haben sich nicht als der rettende Anker erwiesen, der sie einst zu sein schienen – das Internet bleibt bisher deutlich hinter den Erwartungen zurück und Heymann geht auch nicht davon aus, dass sich das jemals ändern wird. Trotzdem ist er bester Dinge: „Unsere Geschäftsjahre 2008 und 2009 waren sehr gut, und wenn ich mir die ersten sechs Monate von 2010 ansehe, wird sich daran wohl nichts ändern.“ [1] Eine umso erstaunlichere Entwicklung angesichts der Tatsache, dass sein Unternehmen in einem Geschäftsbereich tätig ist, den man als Laie gemeinhin als Auslaufmodell ansieht – klassische Musik. Der Grund für seinen Optimismus hingegen hat handfeste Gründe und hört auf einen denkbar einfachen Namen: Naxos Music Library [2]. In dieser Datenbank sind rund 50.000 Alben von über 250 Labels enthalten, und jeden Monat kommen 800 weitere hinzu. Nutzer haben Zugriff auf Operntexte, Komponistenbiographien und Notenmaterialien und alle sind durch eine komfortable Maske blitzschnell durchsuchbar. Der Zugriff erfolgt mittels Abo, dessen Breitbandvariante sich für Privatpersonen auf einen Jahresbeitrag von 225 Euro beläuft. Nicht ausgesprochen günstig. Und trotzdem konnte Naxos für die Music Library letztes Jahr satte fünfundzwanzig Prozent Umsatzsteigerung verbuchen, in den USA sind die Schulen kompletter Landstriche mit ihr ausgestattet – Zahlen, die aufhorchen lassen.

 

Farbenfroher Lebenslauf

Die Erfolgsgeschichte von Naxos wird auch dank Klaus Heymanns farbenfrohen Lebenslauf medial immer wieder gerne aufbereitet. Als Handelsvertreter von Bose und Revox in Hongkong fängt der in Frankfurt geborene Heymann kurz nach Ende des Vietnamkriegs an, klassische Konzerte in der damaligen englischen Kronkolonie zu organisieren. Den auftretenden Künstlern wird dabei schmerzhaft bewusst, dass ihre Aufnahmen in den örtlichen Plattenläden oft bestenfalls als Importe erhältlich sind. Heymann nimmt die Dinge in die Hand, tritt als Vertreter und Vermittler auf und gründet schließlich 1987 Naxos. Dabei fährt er eine revolutionäre Strategie. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Marketing im Klassikbereich durchaus vergleichbar mit dem im Pop- und Rock-Sektor: Es gibt Stars und Sternchen, manche Aufnahmen werden in Millionenauflagen gepresst und der Klatsch und Tratsch von Maria Callas oder Glenn Gould wird in den Medien ebenso heiß diskutiert wie der des Königshauses. Im Gegensatz zum Establishment hat Heymann aber etwas Wichtiges verstanden: Einer Vielzahl von Hörern geht es allein um die Musik, und sie wollen nicht vierzig Mark für ein üppiges Booklet und eine aufwendige Marketing-Kampagne bezahlen. Mit auf das absolute Minimum reduzierten CDs steigt Naxos von einem kleinen Billig-Label zu einem Branchenriesen auf, dem heute in vielen Geschäften sogar eine eigene Abteilung eingeräumt wird.

Doch überdeckt dieser Aufstieg die Tatsache, dass Klassik auch ohne Naxos schon seit langem eher die Vorhut denn ein Sorgenkind des digitalen Zeitalters darstellt. Von massiven Kultursubventionen unterstützt, treten beispielsweise berühmte Orchester wie die Berliner Philharmoniker in der sogenannten Digital Concert Hall [3] auf. Gleichzeitig hat sich daneben ein spannendes Geflecht an Privatinitiativen herausgebildet, welches dem der modernen Musik in nichts nachsteht: Die Welt der Klassik hat ihre Online-Blogger, Download-Center und sogar Creative-Commons-Portale, auf denen man kostenfrei Partituren und Musikstücke beziehen kann. 2008 stellt die englische Musikerin Tasmin Little [4] ihr Album „The Naked Violin“ völlig kostenlos ins Netz – ein Werk, von dem manche meinen, es sei ihr bestes überhaupt. Die Folge ist eine breitflächige Diskussion über die Möglichkeiten klassischer Musik im Netz sowie Zugriffszahlen von einer halben Million Besuchern innerhalb weniger Monate. Seit neustem hat die Szene mit Dilettante [5] sogar ihre eigene Community für den Austausch zwischen Industrie, Musikern und Hörern. Gründerin Juliana Farha beschreibt das Dilettante-Modell folgendermaßen: „Musiker unserer Community können ihre eigene Aufnahme eines Mozart-Klavierkonzerts hochladen und es in den Radio-Player unserer Seite integrieren. Damit wird es allen Hörern zugänglich. Wenn es ihnen gefällt, führt sie ein Click zum Profil des Mitglieds, in dem sie sich über Konzerttermine informieren, Videos früherer Auftritte ansehen und direkt Tickets kaufen können. Wer sich für einen Konzertbesuch entscheidet, wird darüber nachher vielleicht auch auf seinem persönlichen Dilettante-Blog berichten oder im Forum diskutieren.“ Gegen dieses enge Geflecht aus inhaltlichen und persönlichen Verknüpfungen sehen Seiten wie Bandcamp oder MySpace geradezu ärmlich aus.

 

Sonderrolle

Selbstverständlich nimmt die Welt der Klassik eine Sonderrolle ein. Copyright-Fragen sind hier eher von nebensächlichem Interesse und der Back-Katalog ist vergleichsweise wichtig. Daraus ergeben sich aber auch die Chancen zu Mammut-Projekten, deren Dimensionen in der Welt der Populärmusik allenfalls bei den Beatles oder Miles Davis erreicht werden: Das schwedische X5 [6] hat sich bereits mit Projekten wie „99 Most Essential“ zu einem europäischen Marktführer in Sachen digitaler Musikdistribution entwickelt, doch ihr neustes Projekt sprengt alle Grenzen. Bei „Rise of the Masters“ [7] stellen sich zwölf der bekanntesten klassischen Komponisten mit jeweils hundert tonangebenden Werken vor – erhältlich als riesige Download-Folder mit insgesamt siebzig Stunden Musik. Für das Projekt hat man mit dem schwedischen Label BIS zusammengearbeitet; eine kluge Wahl, denn die in dem kleinen Örtchen Åkersberga ansässige Firma, dreißig Kilometer nordöstlich von Stockholm gelegen, gilt Kennern als eines der angesehensten Labels der Szene.

Das Ergebnis mag zwar nach zunächst vor allem nach Masse aussehen, hat aber in puncto musikalischer Qualität nichts mit den Boxen zu tun, die nicht selten beim Supermarkt an der Kasse liegen, sondern eher mit den aufwendig gestalteten Editionen renommierter Traditionslabel.

Da kann es kaum verwundern, dass ebendiese nicht zurückstehen wollen. 2007 ging die Deutsche Grammophon [8], die wohl ruhmreichste klassische Marke schlechthin, mit einem Online-Shop an den Start, der in seiner optischen Aufbereitung und seinem Bedienungskomfort durchaus Referenzcharakter hat. Stephan Steigleder von Universal, dem Mutterkonzern der Deutschen Grammophon, sieht durchaus Grund zum Optimismus: „Für Universal Music GmbH können Sie von einem Anteil von circa zwanzig Prozent der digitalen Umsätze am Gesamtumsatz ausgehen. Im Klassikbereich liegt der Anteil aber klar darunter. Wie auch im Pop-/Rock-Segment gibt es hier aber dennoch bereits Produkte, die einen deutlich höheren digitalen Umsatzanteil aufweisen. Dies kann verschiedene Ursachen haben wie beispielsweise exklusive Inhalte nur für den digitalen Vertrieb.“ Parallel dazu stürmen auch die Stars der Szene auf den Markt. Die niederländische Geigerin Janine Jansen [9] wurde bereits vor fast drei Jahren als „Download-Königin“ bezeichnet, ihre schlanke Aufnahme von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ geriet zu einem der erfolgreichsten Online-Musik-Projekte überhaupt. Der Cellist Alban Gerhardt [10] berichtet derweil auf seinem Blog von einem Auftritt in einem Berliner Club für alternative Musik, in dem ein durchaus nicht auf Klassik spezialisiertes Publikum drei Stunden lang stillhielt, um seiner Interpretation aller sechs Bach-Suiten für Solo-Cello zu lauschen.

 

Praktische Anforderungen

Wie wenige andere Genres hat man in der Klassik somit verstanden, dass Musik zwar ein, wie es der Marketing-Mann ausdrücken würde, „emotionales Produkt“ ist – dass der Kunde beim Kauf aber auch ganz praktische Anforderungen stellt. Während iTunes optimal den Massenmarkt abschöpft, haben sich Seiten wie classicsonline.com sehr erfolgreich auf Kenner spezialisiert. Ebenso interessant ist das Modell von emusic: Der Kunde wird für knapp zwölf Euro im Monat Mitglied eines Clubs und kann sich danach aus einem riesigen Angebot extrem kostengünstig Musik herunterladen. Für Klaus Heymann steht währenddessen fest, dass Streaming-Modelle die Zukunft sein werden.

Johan Lagerlöf von X5, für das Klassik bereits heute der umsatzstärkste Bereich ist, übersetzt diese Diversität in eine allgemeine Formel: „Kunden auf dem digitalen Markt sind sehr preissensibel und daher auch sehr neugierig und offen für neue Konzepte und Produkte. Es ist essenziell, dass das eigene Produkt die Aufmerksamkeit des Hörers schnell und verständlich erregt, denn das Angebot und die Wahlmöglichkeiten sind enorm.“ Kurz gesagt: Einer zunehmenden Vielfalt an Kundenbedürfnissen kann man nur mit einer entsprechenden Vielfalt an Angeboten begegnen. Dass die Populärmusik in dieser Hinsicht der Klassik etwas hinterherhinkt, kann indes kaum verwundern. Schließlich sind die großen Meister dem Rest der Branche mit knapp vier Jahrhunderten an Marketing-Erfahrung voraus.

 

[1] voices.washingtonpost.com/the-classical-beat/2010/07/the_future_of_the_recording_in.html

[2] www.naxosmusiclibrary.com

[3] www.digitalconcerthall.com

[4] www.tasminlittle.net

[5] www.dilettantemusic.com

[6] www.x5musicgroup.com

[7] www.riseofthemasters.com

[8] www.deutschegrammophon.com

[9] www.janinejansen.com

[10] www.albangerhardt.com