Quelle: https://www.beat.de/news/portraet-chicane-10054821.html

Autor: Beat

Datum: 09.02.12 - 11:24 Uhr

Porträt: Chicane

Es lohnt sich, einen tieferen Blick hinter die Fassade von Chicane zu werfen, denn der kommerzielle Erfolg des Dance-Acts geht auch darauf zurück, dass Chicane-Kopf Nick Bracegirdle einer der wenigen Produzenten dieses Genres ist, die auch auf Album-Länge zu überzeugen wissen. Auf dem neuen Werk „Giants“ hat sich zwar scheinbar nur wenig verändert. Doch hat Bracegirdle die bekannten Elemente so zusammengesetzt, dass daraus etwas Neues wächst – und man sich erneut voller wunderbarer Schwermut auf die Suche nach der verlorenen Zeit machen kann.

Dank der Horden bierseliger Touristen, die es jedes Jahr aufs Neue auf die Insel verschlägt, genießt Ibiza heute einen mehr als fragwürdigen Ruf. Dabei hat das Eiland, ähnlich wie das indische Pendant Goa, Musikgeschichte geschrieben. Immer wenn die rotgebrannten Tanzwütigen in die englische Heimat zurückkehrten, trugen sie im Gepäck nämlich nicht nur Sand, Sandalen und unverbrauchte Sonnenmilch, sondern außerdem spannende neue Platten, die Techno und House wieder einen entscheidenden Schritt nach vorne brachten. Auf die Balearen zu reisen war somit mehr als nur ein Zeichen von Hedonismus. Es war, so naiv das klingen mag, stets zugleich Ausdruck einer großen Sehnsucht nach Naturverbundenheit und Harmonie. Auch Nick Bracegirdle, der seit nunmehr vierzehn Jahren unter dem Namen Chicane schwebende Trance-Platten veröffentlicht, denkt noch immer gerne an seine ersten Tage auf Ibiza zurück. An Momente, die wie verworfene Szenen aus der „blauen Lagune“ klingen. Wie Souvenirs aus einem verlorenen Paradies. Oder schlicht wie die Klischees des Chill-Out-Booms der späten Neunziger: „Für mich versprüht die Insel den Zauber eines Café-del-Mar-Sonnenuntergangs“, so Bracegirdle gänzlich unironisch, „Es waren die Vibes eines José Padilla, der im Café auflegte und die ersten Compilations zusammenstellte, sowie die allgegenwärtige Schönheit, die mich nach Ibiza zogen. Und dann war da noch dieses Gefühl, vom Festland abgeschnitten zu sein auf deinem eigenen kleinen Stückchen Himmel.“ Der Eindruck sollte sein Leben für immer bestimmen.

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Chicane nämlich stellt für Bracegirdle den Versuch dar, sich durch Musik in dieses Paradies zurückzuversetzen. Tracks wie „Saltwater“, „Offshore“ oder „Bruised Water“ sind schon im Titel offene Tribute an sorglose Sommertage, an endlose weiße Strände und kristallklare blaue Fluten. Die Musik perlt und fließt, liquide Sequenzerläufe ahmen Wellenbewegungen nach, schwerelose Harmonien treiben wie Wolken am Horizont, fantastische Melodien dringen aus den fernen Transistorradios sorglos träumender Sonnenbader an das Ohr. Musik als Oase, so könnte man diese Vision zusammenfassen – das war schon auf der ersten Chicane-Single so und hat sich auch auf dem neuen, inzwischen fünften Album „Giants“ nicht geändert. Während man den pulsierenden Flötenfiguren, Rhodes-Motiven und schwerelosen Shakern des ersten Stücks „Barefoot“ lauscht, kann man förmlich spüren, wie die Wellen sanft die Zehen umkräuseln und der Wind mit den Haaren spielt. Und bei dem abschließenden „Titles“ neigt sich nicht nur die Platte, sondern zugleich, vor dem geistigen Auge, ein weiterer erholsamer Tag am Strand dem Ende entgegen. Chicane-Alben sind die süße Schwere vor dem Rausch: Wenn der letzte Ton verklungen ist, geht es hinaus in die Nacht, in den Club, in die Urgewalt des Sounds, der sich bassschwer und drückend über einen ergießt.

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Man könnte natürlich auch ketzerisch behaupten, dass sich seit den ersten bahnbrechenden Erfolgen auf dem Chicane-Archipelago denkbar wenig verändert hat. Tatsächlich aber ist es genau diese Konstanz und Erkennbarkeit, um die es Bracegridle geht. Für ihn steht Klang gleichberechtigt neben Komposition, sind Fragen der Stimmung eng mit Harmoniefolgen und thematischen Einfällen verbunden. Zeitlosigkeit war für ihn schon immer entscheidender als ein kurzfristiges Bedienen von Trends: „In gewisser Weise hat mir das Zusammenstellen meiner Best-Of vor zwei Jahren vor Augen geführt, was meine wahren Talente sind“, fasst er seine Philosophie zusammen, „Darauf basiert meine Herangehensweise für das neue Album, die ich als ‚mit einem Fuß in der Vergangenheit und mit dem anderen in der Zukunft‘ beschreiben möchte.“ Konstanten sind für ihn nicht Teil eines kalkulierten Erfolgsrezepts, sondern einer inneren Grunddisposition: „Gerade in letzter Zeit lege ich verstärkt Wert darauf, dass Chicane nicht so sehr an ein bestimmtes Genre gebunden ist, sondern einen fundamentalen Ansatz in Bezug auf Melodie und Atmosphäre verkörpert. Ich könnte aus meiner Sicht einen Reggae-Track produzieren und trotzdem noch als Chicane erkennbar sein. Für mich entspricht mein Sound einer allumfassenden Perspektive auf das Leben, und irgendwie injiziere ich – bewusst oder unbewusst – immer eine Art Melancholie in meine Stücke. Es geht darum, Musik zu schreiben, die dich berührt und zugleich eine gewisse emotionale Tiefe besitzt. Ich bin eigentlich ein sehr glücklicher und umgänglicher Typ, aber in musikalischer Hinsicht ist „Giants“ ein sehr persönliches Album für mich, auf dem ich einige der Momente reflektiere, die für mich von großer Bedeutung waren.“

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Der vielleicht bedeutungsvollste Moment überhaupt liegt indes bereits einige Jahre zurück und ereignet sich, als Bracegirdle als kleiner Junge einen Plattenladen betritt und zielgenau Jean-Michel Jarre’s „Oxygene“ aus dem Regal zieht. Hier findet er alles, was er sich von Musik immer erhofft und erträumt hatte: zarte Rhythmen und tiefe Soundscapes, eine beinahe beklemmende Intimität, dunkle Andeutungen sowie ein Gefühl großer Weite und Räumlichkeit, das mit Worten nicht zu fassen ist. Chicane-Interviews sind alles andere als leichte Angelegenheiten, wenn es darum geht, zur Essenz vorzudringen. Denn diese erschließt sich Bracegirdle selbst nach anderthalb Dekaden des Erfolgs und der kontinuierlichen Verfeinerung seines Stils immer noch rein intuitiv. Lieber kommuniziert er mit Tönen, lässt die Sounds für ihn und für sich sprechen – und wer genau hinhört, wird sofort erkennen, wie wichtig ihm der Tribut an den französischen „Napoleon der Elektronik“ auf „Giants“ ist. Bereits der Name des Albums ist eine respektvolle Verbeugung vor dessen Leistungen, der Titeltrack eine Art visionäre Vorstellung davon, wie Jarre wohl im einundzwanzigsten Jahrhundert klingen würde, wenn sich die Linie seine Karriere direkt von „Oxygene“ in die Gegenwart extrapolieren ließe: Aus ominösen Synth-Flächen schält sich eine majestätische, melodische Idee, ein analog-architektonisches Gebilde von kühler Eleganz und großer Sehnsucht, unter dem – gleichsam als geerdeter Gegenpol – eine linear nach vorne drängende Four-to-the-Floor-Bassdrum pocht.

Die Parallelen zu Jarre reichen aber noch weiter. Denn wie kaum einem anderen Dance-Produzenten heute geht es Bracegirdle nicht darum, unzusammenhängende Tracks in jährlichen Abständen zu marktgerechten Paketen zusammenzuschnüren. Vielmehr schwebt ihm eine klassische Utopie des Albums als sinnstiftende Einheit vor, als fantasievolle musikalische Reise, die nicht nur mehr ist als die Summe ihrer Teile, sondern deren Horizont perspektivisch übersteigt und ihnen eine neue, kollektive Bedeutung verleiht. „Die Übersicht eines Albums trage ich schon sehr früh in meinem Kopf mit mir herum“, bestätigt er, „Ich erstelle dabei „Mood Boards“, was bedeutet, dass ich mehrere Tracks zusammenfüge, um für ein bestimmtes Stück das Gefühl zu erzielen, das mir vorschwebt. Ich trage also Referenzen für die Gestalt des Werks zusammen, bevor ich mit der eigentlichen Arbeit beginne. Natürlich ändert sich in der Praxis dann noch eine ganze Menge, sodass es also im Endeffekt die genaue Anordnung der Stücke eine gewisse Jonglierkunst erfordert!“

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Gleichzeitig gehen die Tracks weit über reine Hintergrundbeschallung oder Party-Tunes hinaus. So sieht sich Bracegirdle eindeutig als ein Songwriter, der über Umwege zum Dance gekommen ist und dessen Titel bereits auf Alben von Pop-Acts wie B*Witched und Soft-Rockern wie Brian Adams gelandet sind – sein Remix von „Cloud Number Nine“ war sogar ein Top-Ten-Hit in England. Auch für die Glamour-Ikone Cher wurde er auf dem Album „Living Proof“ tätig. Die Zusammenarbeit war allerdings eher eine Art surreale Erfahrung für den zwar äußerst wohlhabenden, aber noch immer bodenständigen Produzenten: „Es war sehr merkwürdig“, erinnert er sich an die Arbeit an den Titeln „Alive again“ und „You take it all“, „Wenn du ihr einmal ohne ihre Lakaien begegnest, ist sie im Grunde genommen eine recht normale Person. Aber zusammen mit ihr in ihrem Haus in Malibu zu sitzen und an Songs zu arbeiten, war recht ungewöhnlich. Ich leistete mir den Fehler und fragte sie, ob sie sich vielleicht noch einmal ihre eigenen Vocals anhören wolle. Das hat ihr nicht sonderlich gefallen.“

Für einen notorischen Perfektionisten wie Bracegirdle, der sich selbst als einen „ewigen Bastler“ bezeichnet und nur mit äußerster Schwierigkeit ein Ende für seine Produktionen findet, eine recht seltsam anmutende Vorstellung. So mussten auch auf „Giants“ Tracks in verschiedene Teile aufgesplittet werden, damit er nicht selbst an dem Versuch, die darin enthaltenen Gegensätze unter einen Hut zu bringen, zerbrach. In diesen endlosen Studiostunden entfernt sich der Engländer freilich immer wieder von den paradiesischen Momenten seiner Ibiza-Zeit. Doch bietet ihm die fertige Musik gleichzeitig eine nostalgische Erinnerungsstütze – ganz so, als blättere man mit Tränen in den Augen durch alte Fotoalben, um die glücklichsten Momente im Leben noch ein letztes Mal Revue passieren zu lassen.

von Tobias Fischer