Quelle: https://www.beat.de/news/interview-evan-merz-10052778.html

Autor: Beat

Datum: 14.06.11 - 15:21 Uhr

Interview: Evan Merz

Bereits 1949 versuchte der amerikanische Komponist John Cage, Aspekte der Zufallstheorie auf seine Stücke zu übertragen. Er ordnete dazu musikalische Themen in einem Schaubild an und entwickelte seine Musik aus dem Visuellen. Für die Software „Becoming“ verwendete Evan Merz ähnliche Grundideen, ging dabei jedoch spezifisch von der sogenannten Schwarmtheorie aus, die das Verhalten von Individuen in einer Masse untersucht. Beispielsweise das von großen Tierherden. So wird das Endergebnis davon bestimmt, wie hungrig die „Software-Jäger“ sind und wo das thematische Gras wächst ...

Beat / In wieweit erlaubt es Software, heute Ideen zu realisieren, die Künstlern in den Sechziger- und Siebzigerjahren nicht offen standen?

Evan Merz / In einer Vielzahl von Fällen. Die Pioniere elektro-akustischer Musik haben eine Menge Skizzen von Werken hinterlassen, die mit der Technik der damaligen Zeit einfach nicht umzusetzen waren. Das wohl bekannteste Beispiel ist die „Universe Symphony“ des Komponisten Charles Ives. Sie blieb unvollendet, bis Larry Austin die Ressourcen zusammenbekam, sie zu realisieren.

Beat / Was macht es spannend, ausgerechnet Konzepte der Schwarm-Intelligenz auf Musik zu übertragen?

Evan Merz / Dass man damit betont nicht-menschliche Musik machen kann. Techniken künstlicher Intelligenz wie Schwarm-Intelligenz erlauben es uns, herauszufinden, wie wohl Musik klingen würde, wenn sie von Ameisen gemacht würde. Sie erlaubt es uns, Organisationsprinzipien zu hören, die nicht streng menschlich sind.

Beat / Welche Daten lädt der Nutzer am Anfang einer Komposition in „Becoming“ ein?

Evan Merz / Der Komponist liefert den sogenannten „Audio-Graphen“. Ebenso wie Cage Aufnahmen zu einer Kurve angeordnet hat, muss auch ein Anwender meiner Software seine digitalen Audiosamples visuell anordnen. Die Schwarmmusik, die von „Becoming“ erstellt wird, ist nicht hundertprozentig autonom. Der Schwarm erzeugt zwar einen Output, aber die Quellmaterialien werden alle vom Komponisten beigetragen. Er muss Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte von Sounds erstellen und diese anschließend als Graphen organisieren. Der Klang des fertigen Stücks wird davon bestimmt, wie der Schwarm auf den Audio-Graphen reagiert.

Der Komponist kann durch verschiedene Parameter das Verhalten des Schwarms beeinflussen. Um eine ununterbrochene Bewegung um den Schwarm herum anzustoßen, fügt man einfach Futter und Jäger in den Graphen ein. Mit diesen Schwarmparametern kann der Komponist kontrollieren, wie der Schwarm auf diese reagiert. Der Schwarm könnte beispielsweise eine panische Angst vor den Jägern aufweisen, so wie es bei Gazellen und Löwen der Fall ist. Oder sie könnten sich einfach nur von dem Jäger gestört fühlen – wie bei einer Schafherde und einem Schäferhund.

Beat / In wieweit ergeben sich mit dem Programm Ergebnisse, auf die du als Künstler niemals selbst gekommen wärst?

Evan Merz / Der Schwarm hat keinen musikalischen Geschmack. Er verfügt über keine Kriterien, um zu definieren, ob etwas gut oder schlecht klingt. Die einzelnen Individuen des Schwarms wissen nur, wie man einem Jäger entkommen und zu einem Ort des Graphen gelangen kann, an dem es mehr Futter gibt. Das führt zu einer musikalischen Ambivalenz, die Ambient als Genre komplett neu definiert. Der Schwarm euphorisiert dich nicht und spielt auch nicht mit deinen Emotionen. Er existiert einfach nur. Und das hört man der Musik an, die ich als Ambient bezeichne, obwohl ich dafür Sounds wie beispielsweise laute Becken verwende, die man normalerweise nicht mit dem Genre verbindet.

Beat / Beginnt heutzutage der Kompositionsprozess bereits mit dem Entwickeln der Software?

Evan Merz / Ja. Auf jeden Fall. Wenn du keine neue Software schreibst, schreibst du auch keine neue Musik.

von Tobias Fischer