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Film: Dub Echoes

Kaum eine andere Musikrichtung hat, trotz völliger Ignoranz beim großen Publikum, einen derart radikalen Einfluss auf die elektronische Musiklandschaft ausgeübt wie Dub. Aus Zufall, unerhörtem Talent und einem unglaublichen Pioniergeist entstand auf Jamaica eine Stilrichtung, die mit ihren skelettierten Strukturen und surrealen Effekten teilweise noch heute wie von einem anderen Stern anmutet. Der brasilianische Regisseur Bruno Natal begab sich auf die Suche nach den Ursprüngen – und kam dem Geheimcode dabei dennoch nur langsam auf die Spur.

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Noch heute mutet die Entstehungsgeschichte des Dub wie ein Märchen an. 1968 sitzt ein Mann namens Ruddy Redwood in den Treasure Isle Studios in Jamaica. Redwood ist der Geschäftsführer des Supreme Ruler of Sound, eines der beliebten Soundsystem-Clubs der Insel, in denen jeden Abend die angesagtesten Hits gespielt werden, und arbeitet zusammen mit dem Produzenten Byron Smith an einem aktuellen Titel. Aus Versehen lässt der Engineer den Track laufen, vergisst jedoch, die Stimme zu aktivieren. Redwood ist wie elektrisiert. „Lass es laufen und nimm es so auf“, ruft er erregt, „Den Edit nehme ich am Samstag mit in den Club!“ Und genau so kommt es: Nachdem er zunächst die bekannte Vocal-Version des Stücks gespielt hat, legt er unmittelbar danach das nackte, rohe Instrumental auf, zu dem ein DJ „toastet“ (rappt) – und wird von dem euphorischen Publikum praktisch dazu gezwungen, es am gleichen Abend noch ganze zehn, zwanzig Mal zu spielen.

Was als Backingtrack für die ausufernden Attacken der Toaster entstand, entwickelt im Laufe der Zeit immer mehr ein Eigenleben: In der heimischen Küche basteln Legenden wie Osbourne Ruddock alias King Tubby oder Lee „Scratch“ Perry an einer Musik, in der das Mischpult zum Instrument wird, der wummernde Bass die Melodie ersetzt und Echo und Reverb zu den bestimmenden Elementen aufsteigen. Obwohl die Blütezeit des Dub auf Jamaica nur kurz war und sich die Jugend dort schon lange nicht mehr für ihr einzigartiges kulturelles Erbe interessiert, breitete sich das Genre und vor allem das damit verbundene Gedankengut auf der ganzen Welt wie ein kreativer Samen aus. Dub, das ist vor allem eine Produktionsmentalität, die auf den intensiven Einsatz von Effekten abzielt, um die hypnotische Wirkung stoischer Wiederholung weiß und die Stille zwischen den Tönen nicht als Leere, sondern als die wahre Seele der Musik interpretiert. Hip-Hop und Techno als eigenständige Stilrichtungen wären ohne den Einfluss von Lee „Scratch“ Perry und Kollegen ebenso undenkbar wie der Chill-Out-Boom und die visionäre Kühle von Drum-&-Bass. Und dennoch sind die Legenden hinter den Ursprüngen so unbekannt geblieben wie die alten Helden des Buena Vista Social Club vor ihrer Ry Cooderschen Entdeckung. Wenn Bruno Natal also die Kamera zur Hand nahm, um die Geschichte des Dub zu dokumentieren, dann nicht nur, weil er damit seine natürliche Neugier befriedigen konnte. Sonder auch, weil die Zeit, diese teilweise über sechzig Jahre alten Legenden wenigstens einmal vor die Kamera zu bekommen, inzwischen knapp geworden ist.


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