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Digitale Kultur: Fake-Likes

Zeig mir deine Likes und ich sage dir, wer du bist. Diese Logik gilt heute in der Musikindustrie als eine Grundvoraussetzung für Bookings und Label-Deals. Doch neue Enthüllungen deuten auf ein Netzwerk aus Manipulationen und gekaufter Unterstützung. Werden ehrliche Künstler systematisch benachteiligt?

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Woran erkennt man einen Star? In einer fernen Vergangenheit meinten viele: an einer ganz besonderen Aura, die man spüren konnte, sobald die Person das Zimmer betrat. Auf solch esoterisch-unfassbare Faktoren mag sich heute keiner mehr verlassen. Stattdessen stehen nackte Zahlen im Mittelpunkt des Interesses. Wer bereits erste Erfahrungen bei der Suche nach Live-Auftritten oder DJ-Bookings sammeln konnte, wird mit der gängigen Praxis vertraut sein, dass vor allem die eigenen Social-Media-Daten eine geradezu magische Wirkung auf Organisatoren und Verantwortliche entfalten. Twitter-Follower und Facebook-Likes sind nicht nur einfach und offen einsehbar, sie beinhalten zudem das Versprechen auf Kalkulierbarkeit: Um so mehr Freunde, um so mehr potenzielle Besucher, um so mehr potenzielle Einnahmen. Fans gegen Euro Doch was bedeuten diese Zahlen wirklich, wenn beispielsweise die Downtempo-Legende Peter Kruder knapp 2 Millionen CDs von „DJ Kicks“ und den „K&D Sessions“ verkauft, aber gerade einmal 5000 Facebook-Fans hat? Und wie ist es möglich, dass beispielsweise David Guetta unfassbare 53 Millionen Menschen – mehr als die offizielle Einwohnerzahl Spaniens – zu seinen Freunden zählt? Die Wahrheit hinter den scheinbar objektiven Statistiken tritt nur langsam zu Tage, dafür aber um so schmerzhafter. Und sie enthüllt ein System, in dem erneut die kleinen Labels und Künstler das Nachsehen haben.

Mir selbst wurde die Bedeutung von Likes zum ersten Mal zu MySpace-Zeiten bewusst. Ich hatte gerade ein Interview mit dem Solo-Pianisten Elijah Bossenbroek geführt, der in Eigenregie ein feines Neo-Klassik-Album aufgenommen und veröffentlicht hatte. Bossenbroeks Bekanntheit beschränkte sich zu diesem Zeitpunkt auf die Handvoll Hörer, die er über seine Konzerte erreichte. Kurz nach unserem Gespräch erfuhr ich, dass er bei einer professionellen PR-Agentur angeheuert hatte, und besuchte sein MySpace-Profil. Dort standen plötzlich über hunderttausend Freunde zu Buche. Die genaue Mechanik hinter einem solchen Sprung blieb zwar noch einige Zeit rätselhaft, aber die Botschaft war klar: Geld und Beziehungen waren in den sozialen Netzwerken mehr wert als jahrelange Arbeit an der Basis. Die Augen wurden mir dann einige Jahre später vollends geöffnet, als mir ein Freund, der ein kleines Label leitet, ganz begeistert davon erzählte, wie er auf Facebook einen Promotion-Gutschein eingelöst hatte. Einen Tag später war sein Freundeskreis von zweihundert auf fünftausend angestiegen. Die starke Dominanz südamerikanischer Fans erschien zwar etwas seltsam, doch angesichts eines zunehmend globalisierten Marktes nicht einmal als unerwünscht. Tausende neuer Fans für ein paar Euro – das klang in der Tat nach einem guten Deal. Einige Monate später jedoch hatte sich seine Anhängerzahl bereits wieder halbiert und erhielten seine Posts trotz noch immer stolzer zweitausend Freunde gerade einmal eine Handvoll Likes. Was war geschehen? Die Mechanik der Likes In einem bahnbrechenden Video für das Online-Portal Veritasium hat der Journalist Derek Muller die Mechanik der Likes entschlüsselt. Wer in dem sozialen Netzwerk seine Anhängerschaft erhöhen wolle, so Muller, könne grundsätzlich zwei Wege gehen: den legitimen oder den verpönten. Der Letztgenannte führt zu Anbietern wie WeSellLikes oder Boostlikes und über sogenannte Click-Farms. In deren riesigen Netzwerken befinden sich Millionen von Nutzern, die ihre Profile ausschließlich dafür angelegt haben, gegen Bezahlung ($1 für 1000 Likes scheint eine Art Standard zu sein) bestimmte Firmen, Marken, Labels oder Künstler zu liken. Dass eine solche künstlich erarbeitete Fangemeinde aus Niedriglohnländern in Nordafrika, Asien und Südamerika letztendlich nur wenig echtes Interesse und Partizipation an den eigenen Produkten und Aktivitäten zeigen wird, dürfte von Anfang an feststehen. Doch steht dem ambitionierten Musiker ja noch die zweite Möglichkeit über den offiziell sanktionierten Promotion- Button offen. Nur: Wie vielversprechend ist dieser wirklich? Facebook selbst hat nach außen hin alles dafür getan, falsche Profile zu deaktivieren und die eigene Marketing-Plattform zu stärken. Als man im Sommer 2013 83 Millionen Fake-Accounts löschte – unglaubliche 9% der Gesamtmitglieder – sank dementsprechend auffällig die Beliebtheit einiger großer Schauspieler und Sänger.

Doch hat Facebook wirklich die Wurzel des Übels entfernt? Keineswegs, so Muller. In einem Experiment nutzte er die interne Facebook Promotion- Option, um seine Anhängerschaft in wenigen Monaten um mehrere hundert Prozent zu steigern, bis sie schließlich auf 70.000 angewachsen war. Bereits die geografische Verteilung machte ihn stutzig. 75% seiner neuen Follower kamen aus Indien, Ägypten oder Bangladesh – und somit genau aus denselben Ländern, in denen die angeblich von Facebook so geschmähten Click-Farms liegen. Seine Bedenken sollten sich bewahrheiten. Denn trotz der Steigerung kam es zu keinem signifikanten Anstieg der Diskussionen auf seiner Seite – wenn überhaupt kam es zu einer geringeren Beteiligung seitens der Nutzer als vor dem Experiment, als er gerade einmal zweitausend Fans hatte. Der Grund liegt in dem FB-Algorithmus begründet, der über die Sichtbarkeit der eigenen Posts entscheidet: Sobald ein Nutzer auf Facebook eine Nachricht erstellt, wird sie zunächst nur an eine kleine Gruppe der eigenen Fans verteilt. Wenn diese durch Likes oder Kommentare Interesse demonstrieren, geht sie danach auch an andere Anwender. Doch weil Mullers neue Fans überhaupt kein Interesse an den Posts zeigten, waren diese aus Sicht von Facebook offenbar „uninteressant“. Und somit waren Mullers 70.000 Fans weniger wert als seine ursprünglichen 2.000. Aus Sicht von Facebook stellt diese Methode ein geniales Konzept zur Umsatzgenerierung dar. Denn zunächst klingeln die Kassen, wenn Nutzer im Rahmen der offiziellen Promotion-Möglichkeiten für die Erhöhung der eigenen Likes bezahlen. Und danach gleich noch einmal, wenn sie Geld in die bessere Verteilung ihrer Posts investieren müssen, weil diese immer weniger Leute erreichen. Aus Sicht vieler Anwender jedoch gefährdet dieses Geschäftsgebaren unmittelbar die Nützlichkeit der gesamten Plattform. Sogar viele Privatnutzer klagen darüber, dass ihre Posts bereits seit einiger Zeit stets nur eine kleine Gruppe an Freunden zu erreichen scheinen. Auch wer Facebook nutzen möchte, um beispielsweise sein Blog oder seine Homepage zu bewerben, sollte sich darauf einstellen, nur wenige Clicks zu erhalten: Facebook drosselt gezielt Traffic zu den meisten externen Seiten und unterstützt nur noch eine kleine Zahl ausgewählter und anerkannter Quellen. Social-Media-Experte Bastian Scherbeck hat bereits beobachtet, dass viele große Unternehmen aus genau diesen Gründen den Fokus längst nicht mehr auf die absolute Zahl der Follower legen: „Bei vielen großen Marken spielen die Fan- Zahlen schon lange keine Rolle mehr. Die haben realisiert, dass die Anzahl der Fans per se überhaupt nicht aussagekräftig ist, und integrieren Facebook inzwischen viel spezieller in einzelne Kampagnen und die Gesamtkommunikation.“  

Dominanz der Likes

Diese Erkenntnis ist indes noch nicht zu den meisten Musikfreunden durchgedrungen. Das altehrwürdige Mixmag hat in einer Reihe von Artikeln darauf hingewiesen, dass ganz besonders in der Club-Szene der aktive Einkauf von Unterstützern zum Tagesgeschäft gehört. Radio-Moderator und DJ Andi Durrant beispielsweise wird folgendermaßen zitiert: „Es ist vollkommen üblich. Labels reservieren einen Teil des Budgets dafür, eine starke Fan- Gemeinschaft in den sozialen Medien aufzubauen. Ein Teil davon wird über legitime Online-Werbung erreicht. Aber es ist einfacher, zunächst einmal mit einer Basis von 5.000 bis 10.000 Likes anzufangen, um etwas Schwung aufzubauen.“ In einem Gespräch mit der Schweizer Seite Tillate gab das DJ-Duo Flava & Stevenson unverblümt zu, „dass bei uns Fake-Likes auf der Seite sind. Das macht unsere Plattenfirma, um uns zu pushen. Außerdem machen das andere große DJs wie zum Beispiel David Guetta auch.“ Davon darf man in der Tat ausgehen, da Manipulationen zumeist straffrei bleiben. Zwar erlaubt es die Seite www.topdeejays. com, das Social-Media-Wachstum bekannter DJs über einen längeren Zeitraum zu verfolgen und dabei plötzliche unnatürliche Sprünge zu entdecken. Doch gezielte langfristige Kampagnen, in welche kontinuierlich finanzielle Mittel investiert werden, bleiben auch auf diese Weise unentdeckt. Die Dominanz der Likes scheint jedenfalls ungebrochen. Durrant hat bereits beobachtet, dass in Südamerika Headliner-Positionen vornehmlich auf der Basis der Online-Community-Größe vergeben werden. Und das UK-Duo Distance & Tunnidge berichtet von Flyern, auf denen neben dem Namen des Künstlers dessen Facebook-Likes abgedruckt werden. „Absurd“ sei das, so die beiden. Doch absurd scheint gerade die neue Realität zu sein.

Man kann die These nicht ganz von der Hand weisen, dass mit dem EDM-Boom in den USA endgültig das ganz große Geld und die damit verbundenen Marketing-Methoden in der Dance- Szene Einzug gehalten haben. Doch spielt ebenso eine Rolle, das Facebook sich schon seit langem bemüht, kein soziales Medium mehr zu sein, sondern vielmehr eine Kombination aus Nachrichten- Seite und kostenpflichtiger Werbeplattform. Weitsichtige Experten raten zwar, gerade jetzt die eigene Homepage zu stärken, in eine gut geführte Mailing-Liste zu investieren und sich auf die echten Fans zu fokussieren. Doch zumindest für den Augenblick gilt das Gesetz der großen Zahlen – und ist der Ehrliche tatsächlich der Dumme.

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